Wirklichkeit im Wandel.
Oder: Ist die Wirklichkeit noch in Ordnung?

 

Realität am Ende

Wirklichkeit, Realität -- diese Begriffe sind in letzter Zeit heftigst unter Beschuß geraten. Die Wirklichkeit ist nur noch ein Simulakrum, ein reines Trugbild, meint zumindest Jean Baudrillard, der das Reale in Agonie versinken sieht (vgl. Baudrillard 1978). Kein Wunder: Cyber-Space, die Künstlichkeit von Zeit und Raum als virtual reality, ist -- wenn auch noch nicht in aller Hände -- so doch in aller Munde, die "Eroberung des Körpers“ wird zum nächsten Ziel der technikbesessenen Menschheit (vgl. Virilio 1994). Die Wirklichkeit wird dabei immer weniger greifbar, sie scheint uns unter den Händen zu zerrinnen. Das Paradoxe daran: Auf der einen Seite werden wir durch den immensen Ausbau der Massenmedien immer mehr und immer schneller informiert, auf der anderen Seite können wir diesen overkill an Nachrichten und Bildern nicht mehr verarbeiten und werden orientierungslos. Die Information wird zur Desinformation, der Blick auf die Wirklichkeit wird mehr verstellt als erhellt. Unsere technisierte Gesellschaft "leidet an einer Form von Kultur-Aids, wobei diese Abkürzung hier Anti-Information-Deficiency-Syndrom bedeutet“ (Postman 1992, 72). Und auch Vilém Flusser erachtet die momentane Techno-Medien-Kultur nicht für überlebensfähig: "Die Leitfäden, die bisher das Universum zu Prozessen und die Begriffe zu Urteilen ordneten, sind daran, zu zerfallen, und das Universum beginnt in Quanten, die Urteile in Informationsbits auseinanderzukollern ... Man kann in einem derart leeren und abstrakten Bewußtsein nicht leben“ (Flusser 1985, 17). Ade denn, du schöne neue Welt? Oder wird sich die gute alte Wirklichkeit doch noch einmal behaupten?

 

Wirklicher als die Wirklichkeit -- das freie Flottieren der Zeichen

Bei Saussure war alles noch (ziemlich) einfach. Ein Zeichen hatte zwei Dimensionen, setzte sich zusammen aus dem Lautbild, dem Zeichenträger (signifiant, das Bezeichnende) und dem Begriff bzw. der Bedeutung (signifié, das Bezeichnete). Allerdings stellt sich die Verbindung zwischen dem Zeichenträger und dem Bezugsobjekt, dem Referenten der "Außenwelt“, nur indirekt, eben über die Verbindung mit dem Begriff, der Bedeutung, her. Zeichen sind also arbiträr, willkürlich durch Konventionen festgelegt. Sie sind nicht natürlich, nicht durch wesentliche Eigenschaften motiviert, sondern durch die Differenzen definiert, die sie von anderen Zeichen unterscheiden (vgl. Saussure1967, 76ff).

Ein Beispiel mag diesen Sachverhalt erläutern. Saussure vergleicht die zwei Dimensionen des Zeichens mit dem System des Geldes (vgl. Baudrillard 1982, 17): ein Geldstück muß sich auf der einen Seite gegen ein wirkliches Gut von einem entsprechend festgelegten Wert austauschen lassen, auf der anderen Seite aber muß man es in Beziehung zu allen anderen Ausdrücken des Geldsystems setzen können, so daß allein die Opposition zu anderen Geldstücken zur Unterscheidung ausreicht und den eigentlichen Wert ausmacht. Geld hat also im ersten Aspekt einen klar festgelegten, funktionalen Referenzwert, es bezeichnet etwas, ist bezogen auf das Gold, das etwa die Bundesbank in irgendwelchen Kellern hortet. Der zweite Aspekt ist dagegen struktural bzw. relational, er bezeichnet die Beziehbarkeit aller Ausdrücke aufeinander. Aus beiden Aspekten definiert sich die "klassische“ Ökonomie des Wertes.

Nun wissen wir aber, daß die Goldreserven der Bundesbank die sich im Umlauf befindlichen Geldsummen längst nicht mehr decken. Baudrillard sieht in dieser "Revolution des Werts“ nun die vollständige Abschaffung des Referenzwerts begründet. Was nach Baudrillards Ansicht schwerwiegende Folgen hat: "Vorbei ist es mit ... dieser ganzen Äquivalenzbeziehung zu "realen‘ Inhalten, die dem Zeichen noch so etwas wie Nutzlast und Schwere gaben ... Die andere Bahn des Werts setzt sich durch: die der totalen Beziehbarkeit und der allgemeinen Austauschbarkeit, Kombinatorik und Simulation. Simulation in dem Sinne, daß sich alle Zeichen untereinander austauschen, ohne sich gegen das Reale zu tauschen“. So wird das emanzipierte Zeichen "schließlich frei für ein strukturales oder kombinatorisches Spiel, in der Folge einer totalen Indifferenz und Indetermination“ (ebd., 18). Hier stolpern wir also wieder über den oben bereits festgestellten fehlenden direkten Bezug zwischen Signifikant und Referent, der auf der einen Seite den großen Spielraum des Zeichens konstituiert, andererseits aber auch seine Eignung zum Lügen, wie Umberto Eco es ausdrückt. Für Baudrillard führt diese Möglichkeit der Lüge allerdings weiter, in "das Zeitalter der Simulation“, das eröffnet wird "durch die Austauschbarkeit von ehemals sich widersprechenden oder dialektisch entgegengesetzten Begriffen. Überall die gleiche Genesis der Simulakren: die Austauschbarkeit des Schönen und Häßlichen in der Mode, der Linken und der Rechten in der Politik, des Wahren und Falschen in allen Botschaften der Medien... Alles wird unentscheidbar“ im "Zeitalter der flottierenden Theorien“. (ebd., 20f). Wir leben in einer durch und durch "coolen“ Phase (McLuhan 1968, 29ff), in einem Spiel mit Zahlen, Zeichen und Symbolen, aber ohne feste Regeln. Zur bestimmenden Metapher der Zeit wird die "des Indeterminismus und des Codes“ (Baudrillard 1982, 90). Gegenwart, Wahrheit, Wirklichkeit -- alles also nur noch antiquierte Begriffe? "Das Reale verschwindet... zugunsten dessen, was realer als das Reale ist. Das ist das Hyperreale. Wahrer als das Wahre: das ist die Simulation“, konstatiert Baudrillard (1991, 12).

Sich auflösen, nicht mehr existent sein oder sich verflüchtigen, momentan nicht sichtbar, nicht greifbar sein -- verschwinden kann vieles bedeuten. Und ob Hyper-Realität bereits irreal ist oder nicht -- auf jeden Fall bleibt sie eine Art von Realität. Sicherlich erzeugt Baudrillard einen Rausch der Entwirklichung, aber ihn deswegen allzuschnell als Modephilosophen abzutun, wäre zu einfach. Behalten wir also seine Thesen im Auge, wenn wir uns weiter auf die Suche nach der Realität begeben, ohne allerdings den Unterschied zwischen rechts und links, oben und unten, real und irreal gleich zu verabschieden.

 

Vermittelte Wirklichkeit

Eins ist festzuhalten: Wirklichkeit ist eine komplexe Angelegenheit und wird zunehmend komplexer. So streiten sich die Philosophen seit Anbeginn ihrer Zunft um die Definition von Wirklichkeit. Ob alles im Fluß ist (Heraklit), oder das Dasein ganz feststehend und ewig in sich selbst ruht (Parmenides), oder ob wir -- wie Platon meint -- doch nur die Schatten aus der Welt der Ideen zu Gesicht bekommen: Wirklichkeit steht in der Philosophie von Anfang an im Plural. Immanuel Kant (1724-1804) hat schließlich gezeigt, daß wir die Wirklichkeit nicht an sich, sondern nur vermittelt über die feststehenden Kategorien von Raum und Zeit wahrnehmen. Medien (von lat. medium: die Mitte), Ver-mittler, sind also seit langem als Werkzeuge zur Konstruktion von Wirklichkeit bekannt.

 

Symbolische Wirklichkeit

Als das "an sich“ nicht mehr feststand, übernahm das "als ob“ immer mehr die Funktion der Erkenntnisfähigkeit der Welt. Die Stunde der Symbole hatte geschlagen. Ein Symbol zeichnet sich durch seine Repräsentativität aus; es steht für einen Zusammenhang, der allerdings erst durch das Symbol klar werden soll. Dieser Zusammenhang ist also nicht motiviert, sondern willkürlich festgelegt. Edmund Leach bringt das Symbol deshalb mit der Metapher in Zusammenhang, die paradigmatisch eine Ähnlichkeit beschreibt, ohne in innerer, syntagmatischer Beziehung mit dem bezeichneten Gegenstand bzw. der bezeichneten Idee zu stehen (1978, 24). So wird etwa die Taube zum Symbol des Friedens, obwohl sie nicht unbedingt ein friedvolles Tier und in Städten eher gehaßt als geliebt ist; sie wird also nicht natürlich, sondern erst in einem kulturellen Prozeß mit "Frieden“ in Verbindung gebracht wird.

Symbole können sich auch in einem kulturellen Geschehen mit der Zeit wandeln, haben also eine gewisse Lebendigkeit in sich. Was Symbole aber -- gerade in der Politik -- vor allem so gefragt macht, ist ihre emotionale Kraft. "Vielleicht nicht alle, aber viele und wichtige Symbole beschwören nicht nur Vorstellungen, sondern Gefühle, Wertungen, Stellungnahmen. Sie wirken als Sinnbilder, die zur Identifikation, Projektion oder Distanz bewegen“ (Meyer 1992, 53). Edelmann unterscheidet deswegen zwischen "Verweisungssymbolen“, die auf objektive Sachverhalte hinweisen -- wie etwa die monatliche Arbeitslosenstatistik -- und "Verdichtungssymbolen“. Letztere "wecken die Emotionen, die mit einer Situation verknüpft sind“, lassen sich also besonders gut mit Werten aufladen. So unterbleibt, wo sie auftauchen, "die dauernde Überprüfung an der erfahrbaren Wirklichkeit“ (Edelman 1976, 5). Gerade weil Symbole so konkret auch die Sinne ansprechen, komplexe Sachverhalte verkürzt und mit implizierter Bewertung darstellen, sieht der Psychoanalytiker Ernest Jones in ihnen eine Regression auf eine primitivere Ebene der menschlichen Wahrnehmung (1976, 229-281). Ihre sinnliche Form und ihr gezielt wegweisender Lupeneffekt entsprechen eher dem Level der ersten Stunden des Homo sapiens und der Höhlenmalerei.

Auf die allgemeine Bedeutung der symbolisch vermittelten Wirklichkeit weisen Berger und Luckmann hin. Ihrer Ansicht nach wird die Wirklichkeit weniger durch direkte Erfahrung als vielmehr mit Hilfe einer "symbolischen Sinnwelt“ -- einer Art Käseglocke -- wahrgenommen. Die Wirklichkeit wird also nach bestimmten Mustern "vor-arrangiert“ (1977, 24). Das hat für die "Bewohner“ unterhalb dieses übergestülpten symbolischen Daches einen entscheidenden entlastenden Vorteil: "Wenn... einmal eine symbolische Sinnwelt da ist, so können widersprüchliche Ausschnitte des Alltagslebens durch direkten Bezug auf die symbolische Sinnwelt integriert werden“ (ebd., 106).

Mit dem Symbolbegriff haben wir die Wirklichkeit ein Stückchen näher eingekreist, sind dabei aber auch gleich wieder auf den Unterschied zwischen einer Welt, die Symbole erst kreieren, und der alltäglichen, erfahrbaren Wirklichkeit gestoßen. Doch zunächst müssen wir festhalten, daß Wirklichkeit nur durch Zeichen erfahrbar, vergegenständlicht und vermittelt wird (vgl. u. a. Pross 1974, 23). Zeichen sind dabei nicht nur simple Informationsträger, sondern haben kommunikative Funktion, dienen der sozialen Vermittlung und Verständigung, der Interaktion. Die "sogenannte Wirklichkeit“ ist "das Ergebnis von Kommunikation“ (Watzlawick 1977).

 

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