Wirklichkeit im Wandel.
Oder: Ist die Wirklichkeit noch in Ordnung? (Fortsetzung)

 

Die Grundfunktion der Sprache für die menschliche Wirklichkeit

Die menschliche Kommunikation ist fundamental für jede Gesellschaft, denn in kommunikativen Prozessen entstehen Normen, werden Werte tradiert und Kulturinhalte vermittelt. Vor allem die Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle, auch wenn die nonverbale, bildhafte Kommunikation über Gestik und Mimik nicht vergessen werden darf. "Es ist die Sprache, die den Menschen von der Natur unterscheidet“ (Leach 1991, 45), "mit Hilfe der Sprache ordnen die Menschen ihre Welt“ (Bergsdorf 1983, 23). Mit Habermas, der sich an Mead anlehnt, kann man sagen, daß durch die Sprache intersubjektive Beziehungen aufgebaut und im kommunikativen Handeln moralische Geltungsansprüche -- der Wahrheit, der Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit -- erhoben werden (vgl. Habermas 1981, Bd 1, 525ff). Die Sprache ist der "Schlüssel zur Welt des Sprechers und des Hörers“ (Edelman 1976, 168).

Ein wichtiges Mittel zur Bestimmung von Wirklichkeit durch die Sprache ergibt sich aus ihrer Codiertheit. Wie jedes Zeichensystem ist auch die Sprache codiert, d.h. ein Regelsystem bestimmt den Austausch der Zeichen zwischen Sender (Kommunikator) und Empfänger (Rezipient). Vor allem dualistische Sprachcodes erlauben nun, die Realität in bestimmter Weise zusammenzufügen, denn: "Alltagshandeln wird zuallererst bestimmt durch die einfache Differenz zwischen Ich und Welt, Innen und Außen, Vertrautem und Unheimlichen“ (Giesen 1991, 21). Diese "Inklusionen“ verknüpfen "sprachliche Kommunikation und individuelles Entscheidungshandeln als eine Art sozialer Metacode“, durch sie wird das Gefühl der Gemeinschaft zwischen Angehörigen bestärkt und zugleich eine Abgrenzung von fremden sozialen Gruppen ermöglicht (ebd., 176).

Neben Inklusionen wirken auch codegesteuerte, kulturbedingte Rituale -- wie etwa bei einer Begrüßung oder Verabschiedung von Interaktionspartnern -- gemeinschaftsbildend. Sie sind Handlungs- und Verhaltensschemata, die nach feststehenden Regeln ablaufen. Auch Bedeutung und Ergebnis von ritualisierten Handlungen sind formalisiert und können so oft in Kurz- oder Standardform ablaufen. Letztlich ergibt sich also auch hier die Ordnung und Reduktion von Komplexität der Realität. Dabei "wird ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit geschaffen, und Tatsachen, die nicht in dieses Bild passen, werden ausgeblendet (Edelman 1976, 14).

Noch eine weitere Form der Strukturierung der Wirklichkeit und der Gemeinschaft hat sich sprachlich ausgebildet: der Mythos. Jede Gesellschaft verfügt über Mythen; besonders bei "primitiven Völkern“ -- aber auch in hochtechnologisierten Sozialverbänden -- übernehmen sie wichtige integrierende und interpretierende Funktionen. Letztlich wurzeln sie im "Grundbedürfnis des menschlichen Geistes nach Ordnung“, wie Claude Lévi-Strauss sagt (1980, 25). Daß Mythen auch heute noch gerne gebraucht und akzeptiert werden, daß ein "Hunger“ nach dem Mythos besteht, kann also aufgefaßt werden als "Verlangen, über sich selbst hinaus in die Ordnung zu treten, die mich als ein Objekt mit einem festgelegten Bereich von Möglichkeiten behandeln heißt, als Ding, das eine Stelle in einem Bau ausfüllt“ (Kolakowski 1973, 33).

Was den Mythos so effizient macht, ist letztlich seine nicht hinterfragte Geltung. Das hängt zum einen mit seinem Ursprung als mündliche Überlieferung im Zusammenhang mit religiösen Zeremonien, mit seinem Charakter der heiligen Erzählung zusammen. Zum anderen stellt er sich aber als "gestohlene Sprache“ dar, wie Roland Bartes festgestellt hat (1964, 115). Das bedeutet, daß der Mythos ein bereits vorhandenes Sprachsystem zunächst sinnentleert und dieser Hülle dann seine eigene Bedeutung aufpfropft: Das Gesicht der Garbo muß erst erstarren und zur Maske werden, bevor es den "göttlichen“ Charakter, den faszinierenden Charme (ital.: garbo) der verführerischen Frau schlechthin annehmen kann. So gibt der Mythos der Geschichte den Charakter des Natürlichen und festigt die Hierarchie der Gesellschaft (vgl. ebd., 113/145). Er kanalisiert die Ängste der einzelnen in ein umfassendes Erwartungssystem und entbindet das Individuum so vor eigener Verantwortung für sein Handeln (vgl. Edelman 1976, 111).

 

Sprache und Manipulation

Allerdings verbindet die Sprache nicht nur Gesellschaften (Integrationsfunktion) und zeigt zu-gleich Merkmale auf, die eine Gemeinschaft von einer anderen unterscheidet (Distinktionsfunktion), sondern sie bestimmt dadurch insgesamt die Wege und Ziele dieser Gesellschaften (Steuerungsfunktion). Deshalb erwies sich die Sprache auch schon immer als äußerst beliebtes Mittel der Handlungsbeeinflussung.

Eine ganze Wissenschaft, die Kunst der Rhetorik, beschäftigt sich seit der Antike mit diesem Gebrauch der Sprache. Dabei war das eigentliche Feld der Rhetorik zunächst das von der Lehre der Argumentation, die mit kunstvollen, logischen Schlüssen die Zuhörer zu überzeugen suchte (vgl. Perelman, 1980). Erst am Ende der Antike gewinnt die zweite Seite der Rhetorik an Übergewicht, die durch Tricks und Propaganda die Massen überreden, manipulieren will -- Manipulation dabei "verstanden als unauffällige Beeinflussung der Handlungsmotivierung von Individuen, so daß sie frei und im eigenen Interesse zu handeln meinen, wo sie tatsächlich nur den Zielen der Manipulatoren dienen“ (Rucktäschel 1972, 6). Dem rhetorisch gewandten Sprecher stehen dabei zahlreiche sprachliche Mittel zur Verfügung. Etwa die Metapher, mit der sich Bedeutungen auf neue Zusammenhänge übertragen lassen oder der Euphemismus, der ein Schillern in der Sprechweise erzeugen und die trostlose Wirklichkeit etwas verschönern kann.

Manipulierend kann auch die suggestive Kraft der Sprache wirken. Modulation, Pausenwahl, Tempo, insgesamt der Sprachstil können bestimmte Konnotationen nahelegen sowie Assoziationen freisetzen. Tonlage, Gestik und Mimik tun ein weiteres dazu, nicht nur ein bestimmtes Bild vom Sprecher festzusetzen sondern auch die Meinung der Rezipienten zu lenken. Erstmals treffen wir hier auf die Tatsache, daß oft nicht so entscheidend ist, was man sagt, sondern wie man es sagt. "In der Suggestibilität ist die Voraussetzung dafür gegeben, daß Eindruck an die Stelle von Einsicht als Motiv zur Annahme oder Verwerfung übermittelter Bedeutungen wirksam zu werden vermag“ (Pöll 1951, 67f). Auch die Sprache erweist sich folglich als zweischneidig: Einerseits ist sie unerläßlich für die Konstitution von Wirklichkeit, andererseits kann Sprache den Blick auf die Welt in bestimmter Weise lenken und von der Wirklichkeit ablenken.

Natürliche Sprachen sind mehrdeutig, lassen verschiedenen Interpretationen freien Lauf. Bereits die Verwendung der normalen, nicht auf Überredung angelegten Sprache läßt "Möglichkeiten mehrfacher Wahlen zu: das Spiel der Qualifikationen, der grammatischen Kategorien, der Modalitäten im Ausdruck des Gedankens, der Verbindungen zwischen den Sätzen erlaubt die Elemente der Rede in eine Rangfolge zu bringen und den einen oder anderen ihrer Aspekte zu betonen“ (Perelman 1980, 53f). Und wenn erst alle Register der Rhetorik -- als Überredungs- nicht als Überzeugungskunst verstanden -- gezogen werden, dann ist die Redekunst "weniger ein Kommunikationsmittel als vielmehr eine Kommunikationswaffe, bei der die Energie der Information häufig mit denunziatorischer, aggressiver Energie verbunden ist“ (Virilio 1994, 39).

 

Die Komplexität der technologisierten Wirklichkeit

Niklas Luhmann hat die Struktur der modernen, hochtechnologisierten Gesellschaften klar beschrieben: Industriegesellschaften sind hochgradig differenzierte Systeme mit zahlreichen Subsystemen. Sie sind in ihren Einzelbereichen so komplex und von extrem spezialisiertem Expertenwissen abhängig, daß es für Außenstehende unmöglich wird, die einzelnen Bereiche und ihre Besonderheiten zu begreifen. Verschiedene Industrien, Wissenschafts- und Technologiegebiete, Unternehmen und Branchen, eine Vielfalt von Berufsmöglichkeiten, der Kunst- und Literaturbetrieb sowie die dazugehörigen Subkulturen oder gar die vielfältigen Hobbies und Lebensstile -- alles ist nur schwer auseinanderzuhalten, geschweige denn zu überblicken. Eine "Neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas 1985) hat sich über die Gesellschaft gelegt. Luhmanns Ansicht nach haben dabei die Massenmedien die Aufgabe übernommen, durch Selektion der wichtigsten Ereignisse, Themen und Probleme die Komplexität der Verhältnisse auf ein konsumierbares Maß zu reduzieren und die politischen Problemprioritäten zu bestimmen (vgl. Luhmann 1970, S. 2-28).

Komplexitätsreduktion ist nun eigentlich eine alte Sache, wie wir bereits im Zusammenhang mit den oben beschriebenen sekundären Interaktionscodes gesehen haben. Mythen, Rituale, Inklusionen sowie Symbole haben der Menschheit schon seit langer Zeit gedient, die Wirklichkeit zu deuten und den Umgang mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt festzulegen. Die Grundfunktion von Medien bestand von Anfang an darin, Informationen zu speichern und zu beschleunigen. Medien geben unserem Leben künstliche Wahrheiten und willkürlich festgelegte Werte (vgl. McLuhan 1968, 217). Doch Massenmedien verwenden neue Codes, neue Techniken und setzen damit neue Maßstäbe. Sie verändern die Kultur in unerhörter Weise.

Ohne Zweifel: Massenmedien sind zur wichtigsten Vermittlungsinstanz von Wirklichkeit in unserer Gesellschaft geworden. Durch sie wurde unser Horizont ungemein erweitert, der Blick in die entlegensten Gebiete auf unserem Globus ermöglicht. "Mehr als 300 000 Zeitungen und Zeitschriften erscheinen weltweit, etwa 30 000 Hörfunk- und rund 3000 TV-Kanäle sind, manche rund um die Uhr, zu empfangen, in mehr als 6000 Datenbanken sind unzählige Informationen gespeichert ... Der Planet Erde ist von einer riesigen aus Sendern und Empfängern, Kabeln und Computern bestehenden netzartigen Informationsmaschine umhüllt“ (Der Spiegel Nr. 14/1993, 150). Und ein Ende des Wachstums dieses Informationsangebots ist nicht abzusehen. Die Multimedia-Maschine für den Heimgebrauch, die Vernetzung aller technischen Kommunikationsgeräte vom Computer bis zum Fernseher steht vor der Tür, Nachrichtenagenturen bauen ihre Informationssammlung und -abgabe weiter aus. Der einstmalige Abbau von Komplexität durch Massenmedien scheint sich ins Gegenteil gekehrt zu haben.

 

Die Wirklichkeit der Massenmedien

Spezifisch für die Massenkommunikation im Gegensatz zur primären, persönlichen Kommunikation ist der Einsatz von Technologie, der sich entweder nur auf die Zeichenproduktion erstreckt, wie etwa bei der Presse, oder sowohl die Produktion als auch die Rezeption der Information umfaßt, wie es z.B. beim Fernsehen oder Radio der Fall ist. Im letzteren Fall kann man von einer doppelten Codierung der Information im Übermittlungsprozeß sprechen. Zum einen benutzen die damit entstehenden tertiären Medien für die Ver- und Entschlüsselung der übermittelten Information einen eigenen technischen Code in Form von Frequenzen, zum anderen besteht ihre Information selbst bereits aus einer codierten Zeichensprache, da -- zumindest beim Fernsehen -- Bild- sowie Wortsprache erst durch Anwendung bestimmter Regelsysteme verständlich sind. Der Grad der Technisierung ist folglich sehr hoch, Massenmedien sind High-Tech-Produkte.

Medien codieren einen Ausschnitt der Wirklichkeit, eine Vorstellung von Realität oder auch eine Fiktion und übersetzen diese in eine spezifische Zeichensprache. Dadurch entsteht eine neue Wirklichkeit, die Züge der spezifischen Zeichenvermittlung trägt, die den Gebrauch einer bestimmten Technologie ausmacht. Der Einsatz von Technologien verwandelt so mittelbar auch die Werte und Wahrnehmungsweisen einer Kultur. "Technologien verändern die Strukturen unserer Interessen -- die Dinge, über die wir nachdenken. Sie verändern die Beschaffenheit unserer Symbole -- die Dinge, mit denen wir nachdenken. Und sie verändern das Wesen der Gemeinschaft -- die Arena, in der sich Gedanken entfalten“ (Postman 1992, 28). Das hat bereits McLuhan mit seiner berühmten Formel zum Ausdruck: "Denn die "Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.“ Das Medium wird zur Botschaft, "weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert“ (1968, 14).

Das Wesen und die Bedeutung der Massenmedien leiten sich von der dahinterstehenden Technologie ab, die widerum auf die kulturelle Wirklichkeit zurückverweist. Ihre vorläufige Blütezeit haben die Massenmedien folglich in unserer technikbesessenen Zeit entwickelt. Der Komplexität der hochentwickelten Industriegesellschaften verdanken sie letztlich erst die für ihren Produktions- und Distributionsprozeß notwendigen formalen und technischen Organisationen; und erst in einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist die zu ihrer Rezeption nötige Aufnahmebereitschaft eines großen anonymen Publikums gegeben (vgl. Silbermann/Krüger 1973, 25). Ein wichtiges Charakteristikum der Massenkommunikation ist außerdem ihr nach wie vor größtenteils einseitiger, indirekter Kommuniktionsfluß vom Sender zum Empfänger (vgl. Maletzke 1972, 32). Die Sender und Träger der Massenmedien sind zudem aus Gründen der hohen Produktions- und Verbreitungskosten meist komplexe Großorganisationen, die immer stärker vernetzte Multimedia-Imperien bilden.

Wie gestalten diese hochtechnologisierten Kommunikationsformen nun die Realität? Daß Massenmedien die kulturelle Wirklichkeit nicht einfach abbilden, dürfte nach dem oben Gesagten über den Einfluß der Technologie auf die Strukturierung der Wirklichkeit klar sein. Denn formale Strukturen wirken von vornherein auch auf den Inhalt: Medien können immer nur einen selektierten Ausschnitt der Wirklichkeit übermitteln, da sie aus organisatorischen oder technischen Zwängen (Zeitdruck, verfügbarer Raum für Informationen) nur bestimmte Aspekte in ihre Berichterstattung aufnehmen können. Zum anderen greifen auch die Vermittler, die Journalisten, selektiv in den Prozeß der Informationsweitergabe ein. Faktoren wie Aktualität, Ereignishaftigkeit oder einfach eigenes bzw. vom Publikum erwartetes Interesse werden wirksam. Natürlich hat auch der Besitzer bzw. der Redaktionschef Einfluß auf die "Linie“ der Informationsgestaltung. Alles zusammengerechnet geht die Nachricht über ein ursprüngliches Ereignis also erst mal durch die verschiedensten Hände und Produktionsstationen: Wie beim "Stille Post“-Spiel, bei dem einer dem anderen etwas ins Ohr flüstert, bis am Ende ein völlig neuer Sinngehalt herauskommt, entsteht die Mediennachricht als neue, eigene Wirklichkeitsdarlegung. Letztlich "kann es mitunter völlig unerheblich sein, ob für die Informationen auch intersubjektiv feststellbare "faktische‘ Entsprechungen existieren, entscheidend ist nur, daß die Nachrichten von denen, die sie erfahren, als "wirklich‘ akzeptiert werden. Ist dies der Fall, dann sind die Nachrichten "Realität‘, zumindest sind es ihre Konsequenzen“ (Schulz 1976, 28).

Man kann also davon sprechen, daß Medien nicht nur Erfahrungen aus "zweiter Hand“ vermitteln, sondern zugleich eine eigene Wirklichkeit aus den Aspekten der von ihnen aufgegriffenen Realität schaffen. Massenmedien kommt folglich eine Thematisierungs- und eine Strukturierungsfunktion zu (Mathes 1989, 457). Dabei fokussiert die Berichterstattung oft anhand von Stereotypen der Journalisten Entwicklungen auf ihre Grundaussagen; und auch der Umfang der Darstellung von Problemen in den Medien und ihre redaktionelle Darbietung, z. B. durch eine bestimmte Plazierung, bestimmen nach Auffassung der Agenda-Setting-Forschung die Wahrnehmung und die Einschätzung dieser Konflikte (ebd., 442). Allgemeines Resümee der Medienforschung ist deshalb "die Feststellung, daß die Massenmedien in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren. Die Berichte der Medien sind oft ungenau und verzerrt, sie bieten manchmal eine ausgesprochen tendenziöse und ideologisch eingefärbte Weltsicht. Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie die Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung“ (Schulz 1989, 139).

 

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