Warten auf den Boom!? Die Rätsel der New Economy
Von Stefan Krempl
Euphorische Wirtschaftsprognosen jenseits des Großen Teichs stehen
einer Reihe von nicht abflauenden ökonomischen Hiobsbotschaften
auf dem alten Kontinent gegenüber. Wann zündet die lange in Stellung
gebrachte Internetrakete endlich auch in Europa? (In: Global Online 9/97)
Die Wirtschaft boomt -- nur nicht bei uns. Überall scheinen Unternehmen
Vorteile aus der Globalisierung des Handels und aus dem Einsatz
von Informationstechnologien zu ziehen, doch in Deutschland dreht
sich die gesamte Diskussion allein um die ständig steigenden Arbeitslosenzahlen,
die horrende Neuverschuldung des Staates sowie die festgefrorenenen
Wachstumsraten in der Wirtschaftsentwicklung.
Amerika, du hast es besser, wußte schon Goethe zu berichten. Heute
kann auch Helmut Kohl ein Liedchen davon singen, traut er sich
als Führer des einstigen Wirtschaftswunderlandes dem jetzigen
Musterknaben Bill Clinton doch kaum noch unter die Augen. Tatsächlich
könnte einen der kalte Neid beim Blick über den großen Teich überkommen:
eine Volkswirtschaft "unter Aufputschmitteln" (BusinessWeek), praktische Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote unter
5 Prozent, eine niedrige Inflationsrate und die führende Position
in der Anwendung und Produktion von Computertechnologien. Der
vormals chronisch defizitäre Haushalt soll durch Sparen und Steuererleichterungen
(!) in fünf Jahren sogar ausgeglichen sein, kurz: die wirtschaftliche
Situation ist glänzend -- genauso wie die Zukunftsaussichten.
In den Staaten gehen Wirtschaftsinsider daher bereits von einer
Aufhebung der langjährigen Zyklen von Auf- und Abschwung aus:
"BusinessWeek" hievte den "neuen Business-Kreislauf" sogar Ende März auf das
Titelblatt.
Das kalifornische Magazin "Wired", das sich seit seiner Gründung vor fünf Jahren als Trendblatt
der "digitalen Elite" versteht, hat diese paradiesischen Zustände
jüngst zum Anlaß genommen, tief in die Glaskugel zu schauen: Gesichtet
wurde dabei "der lange Boom", eine mindestens 25 Jahre andauernde
Phase der Prosperität, der Freiheit und des Wohlergehens der gesamten
Menschheit. Als Bit Bang, als Zündpunkt des Wachstums machen die
Autoren selbstredend das Internet aus, das für viele zum Arbeits-
und Marktplatz wird, aber auch indirekt als Stimulanzmittel für
die Informationswirtschaft wirkt und langfristig "jede Form der
menschlichen Aktivität" verändert. Dazu gerührt wird noch ein
wenig Bio- und Nanotechnologie, eine Prise American Dream und
das "Ethos der Offenheit" -- und fertig ist der explosive Düngemix
für die Boomwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Ein Mix, der zwangsläufig genau auf die amerikanische Seele zugeschnitten
ist: "Es sieht fast so aus, als ob die Welt auf eine Zukunft zusteuert,
die von den aktuellen Ereignissen in den Vereinigten Staaten geprägt
zu sein scheint", meinen die selbsternannten Zukunftsforscher
von der Westküste. Denn dort werden die Kerntechnologien und die
Infrastrukturen des nächsten Jahrhunderts gelegt. Und nur in Amerika
gibt es diesen grundlegenden Optimismus, der den Rest der Welt
schon mal "an den Rande des Wahnsinns führt", diese pragmatische
"just-do-it"-Haltung, die andere Völker allein aus der Werbung
kennen. Larry Summers, ökonomischer Berater der Clinton-Gore-Administration,
bringt dieses Sendungsbewußtsein auf den Punkt: Es sei die wohl
eindeutigste Lehre aus der Geschichte, meint er in einem Interview
mit "Wired", daß "Fortschritt amerikanische Führung benötigt" - und der Erfolg
des amerikanischen Modells scheint ihm Recht zu geben.
Was die Autoren selbst als ein "Szenario" beschreiben und sich
in der deutschen Realität größtenteils wie reine Science Fiction
liest, hat sicherlich seine angreifbaren Seiten. Für einen Großteil
der Arbeitnehmer in den Staaten ist beispielsweise das reale Einkommen
in den vergangenen 10 Jahren gleichgeblieben oder sogar gesunken,
während die Spitzenverdiener im selben Zeitraum kräftig zugelegt
haben. "McJobs" auf der einen Seite, "Wissensarbeiter" auf der
anderen, führen zu einer immer stärkeren Spaltung der Gesellschaft.
Außerdem scheint ein großer Teil des Booms auf im wahrsten Sinne
des Wortes rein virtuellen Börsengewinnen zu ruhen und damit über
ein recht unsolides Fundament zu verfügen.
Viele der als Folge des Booms beschriebenen Entwicklungen erinnern
zudem an reines Wunschdenken oder sogar Augenwischerei: So meinen
die Autoren etwa, daß der große Aufschwung einen "Geist der Freigebigkeit"
auslösen werde, daß sich die Amerikaner wieder der "Zurückgelassenen"
erinnern und sie einfach in das offene und großmaschige "Netzwerk"
der "Neuen Ökonomie" mit einbeziehen werden. Auch die Umwelt soll
von der freien Marktwirtschaft in Bälde profitieren, wenn saubere,
alternative Energiequellen erschlossen werden. Allerdings auch
keine Sekunde früher: Von Waldkonventionen und Bestimmungen zum
Schutz der Ozonzone wollte der amerikanische Präsident im Boom
nämlich auf dem letzten Weltwirtschaftsgipfel nichts hören, um
das störrische Baby Wirtschaftswachstum nicht zum Schreien zu
bringen. Illusionär scheint auch die Annahme, daß die asiatischen
Nationen alle in gleichem Maße das westlich-amerikanische Wirtschaftsmodell
übernehmen werden.
Wenn die große, positive Idee des langen Booms sich also letztlich
als Produkt des kalifornischen Internethype entpuppt, so sind
doch einige ihrer Kerninhalte nicht von der Hand zu weisen: Unternehmen
und Arbeitnehmer in den USA sind Europa in der Anwendung der Computertechnologie
voraus -- fünf bis zehn Jahre in den Augen von Intel-Chef Andrew
Grove -- und scheinen die Paradigmen der "Neuen Ökonomie", die
Kombination von globaler Ausrichtung, kundenspezifischem Denken
und flexiblen, technologisch unterstützten Strategien bereits
in höherem Maße zu beherzigen.
Diesen Unterschied allein an überteuerten Telekommunikationspreisen
auf dem alten Kontinent festzumachen, wäre allerdings zu kurzsichtig:
die Tarife der europäischen Telekoms laden zwar sicherlich nicht
zum unbesorgten Surfen ein, können allein aber nicht für den gänzlichen
Verzicht auf E-Mail und Internet verantwortlich gemacht werden.
Tieferliegende kulturelle Unterschiede scheinen also die unterschiedliche
Haltung zur Informationstechnologie zu bestimmen. Fehlende Spontaneität,
mangelndes Verständnis für Interaktivität und sogar Arroganz,
sich mit den Neuen Medien zu beschäftigen, hat in diesem Sinne
Nicholas Negroponte als Hintergründe dafür ausgemacht, warum Europa
nicht "auf Draht" sei.
Vielleicht sind es auch einfach zu hohe Erwartungen an das Medium
Internet und an die Geschwindigkeit der Annahmebereitschaft in
weiteren Teilen der Bevölkerung. Zwar wird von politischer Seite
aus eine Erklärung nach der anderen zum Stand der Informationsgesellschaft
in Europa verabschiedet, allerdings hinken selbst diese Wegbeschreibungen
den amerikanischen Manifesten immer ein paar Monate hinterher
-- und gelesen werden sie zudem nur von den Netizens, die eh schon
lange im Netz heimisch sind. Aber auch in Unternehmen selbst erhofft
man sich vom Netz oft nur einen effizienteren Baustein im Reengineering-Prozeß.
Denn wer nur auf Outsorcing und Kostensenkung schielt, verkennt
die dem Netz allseits bescheinigten Potentiale in den Bereichen
Kundenzufriedenheit sowie Qualitäts- und Geschäftsvolumen gründlich.
Um diese, einer Studie des Beratungsunternehmens C. Melchers Consulting
zufolge auch in deutschen Firmen klar vorhandenen Möglichkeiten
zu nutzen, bedürfte es allerdings eines Umdenkens in der gesamten
Unternehmensorganisation: Prozeßorientiertes Handeln müßte an
die Stelle der alten Funktionsorientierung treten, verstaubte
Abteilungshierarchien müßten zu informationsverbundenen, flexiblen
Einheiten umgestaltet und Mitarbeiter als kreatives Kapital angesehen
werden. Eine gewaltige Umstellung für die größtenteils noch vorherrschenden
quasi-bürokratische Unternehmenskulturen hierzulande.
Ob diese positiven Reengineerings-Effekte allerdings langfristig
die mit der Computerisierung und Vernetzung von Unternehmen verbundenen
Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse sowie die steigende
Arbeitsproduktivität wettmachen können, ist eine andere Frage.
Vielleicht sollte sich Deutschland daher gar nicht erst auf die
momentane Konjunkturwelle einlassen -- zumindest nicht in dem
jetzigen Tempo. Denn die "wahren" Trendsetter denken längst an
die nächste Wirtschaftsepoche, die -- zumindest nach Meinung des
Forschers Leo A. Nefiodow -- ihre hauptsächliche Energie aus der
"Sorge um die ganzheitliche Gesundheit" ziehen werde.
Der Informationstechniker beruft sich in seiner Projektion auf
die von dem russischen Volkswirtschaftler Nikolaj Kondratieff
zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgearbeitete Theorie der etwa
50 Jahre dauernden Konjunkturwellen, die alle durch eine grundlegende
Idee bzw. eine Basisinnovation -- von der Dampfmaschine bis eben
zum Computer -- gekennzeichnet werden. Nefiodow sieht in Kondratieffs
Spuren die dynamischste Wachstumsphase der Informations- und Kommunikationstechnik
bereits ihrem Ende entgegenstreben. Was danach anstehe, wäre erst
einmal ein langer "Reparatur-Kondratieff", in dem das ökonomische,
ökologische und psychosomatische Gleichgewicht von Mensch und
Welt wieder austariert werden müsse. Und für dieses "Business"
scheint der deutsche Wirtschaftsgeist ja deutlich bessere Erfolgsfaktoren
mitzubringen als für die Ausarbeitung von Unternehmensstrategien
aus dem Geist von E-Mail und Intranet.