Modell Malaysia?: Der
asiatische Weg ins Informationszeitalter
Von Stefan Krempl
Alle Länder der hochentwickelten Industriegesellschaften haben
den Weg in die digitale Welt eingeschlagen und legen - mit unterschiedlichem
Tempo - Zufahrten in den Cyberspace. Doch ganz nach vorn in die Zukunft
will sich das Wirtschaftswunderland Malaysia katapultieren. In: Global
Online 11/97.
"Die Welt ist nicht mehr auf Atome gebaut, sondern auf Bits; ihr
Zentrum wird sich verlagern und in ein weitverzweigtes Netzwerk verwandeln."
Nein, nicht aus dem Munde des Oberpriesters alles Digitalen, Nicholas Negroponte,
stammt diese Einsicht, sondern von Dr. Mahatir Mohamed, dem Visionär
auf dem malaiischen Politikerthron. Der Mann hat eine Mission: nachdem
er in 16 Jahren Regierungszeit Malaysia zu einem kleinen Tiger mit seit
10 Jahren ungebrochenen wirtschaftlichen Wachstumsraten über 8 Prozent
gedrillt hat, wird der 71jährige nun von der Idee getrieben, sein
Land als erste Inkarnation einer "Wissensgesellschaft" ins nächste
Jahrtausend zu führen. Die "Vision 2020" umschreibt die
Ziele für die nächsten Jahrzehnte, in denen Malaysia eine leistungsstarke
Informationsinfrastruktur aufbauen, eine "kluge" Gesellschaft
mit "klugen" Häusern, "klugen" Städten, "klugen"
Schulen und Smart Cards begründen und globale Standards in Multimedia-Anwendungen
setzen will.
Der Premier mit dem patriarchalischen Führungsstil hatte schon
immer einen Hang zum Gigantischen: Mit den 452 Meter hohen Petrona Twin
Towers pflanzte er seiner Hauptstadt Kuala Lumpur die momentan höchsten
Gebäude der Welt als Symbole des Wachstums ein. Dazu spendierte er
der 3-Millionen-Stadt noch einen vergleichbar riesigen Flughafen, auf dem
im nächsten Jahr stündlich bis zu 70 Flüge abgefertigt werden
sollen. Und nachdem im Reich der Materie kaum noch Rekorde zu brechen scheinen,
denkt Mahatir nun an die Möglichkeiten des Virtuellen und an den Cyberspace,
in den er sein Vermächtnis genauso einschreiben möchte wie in
die reale Landschaft.
Die allgemeinen Zielsetzungen für die malaiische Version der Informationsgesellschaft
hören sich zunächst altbekannt an, unterscheiden sich kaum von
den auf geduldiges Papier gedruckten "Wegbereitern" in den Vereinigten
Staaten, Japan, Europa und einigen anderen Dutzend Ländern: von einer
"elektronischen Regierung" ist die Rede, von Telelearning und
Telemedizin, von neuen Möglichkeiten im Bereich Telemarketing und
Electronic Commerce. Doch der asiatische Premier möchte kein virtuelles
Luftschloß und keinen beliebigen, ins Nirgendwo führenden Information
Superhighway errichten, sondern ein ganz konkretes Forschungs- und Produktionsumfeld
schaffen, das Technologiefirmen, Investoren und Know-how ins Land bringt:
den "Multimedia Super Corridor" (MSC). Hinter dem klangvollen
Namen - der allerdings nicht ganz ohne Anleihen beim amerikanischen Vorreiter
auskommt - verbirgt sich rein physikalisch ein 15 Kilometer breites und
50 Kilometer langes Feld, das im Zentrum Kuala Lumpurs beginnen und beim
neuen Flughafen endet. Innerhalb dieses Korridors soll nicht einfach ein
neues Silicon Valley nachgebaut werden; in der Vision vorgezeichnet wird
vielmehr ein einmaliges "produktives und intelligentes Umfeld"
für Multimedia-Applikationen, in dem die neue digitale Wertschöpfungskette
nicht nur entwickelt, sondern in der Praxis gleich erprobt werden soll.
Denn die elektrisierte und später elektronische Regierung will gleich
mit in den MSC umziehen, in die neue, hochtechnologisierte Verwaltungsstadt
Patrajaya. Als Pendant ist Cyberjaya gedacht, eine genauso "kluge"
Stadt, in der neben der Multimedia-Industrie auch eine Multimedia-Universität
angesiedelt werden soll.
Bei soviel Multimedia muß die Netzinfrastruktur mitspielen. Mit
5 Gigabit pro Sekunde (Gbps) sollen die Bits und Bytes zwischen den beiden
Zukunftsstädten umherrschwirren; für den regen Datenaustausch
mit Europa, Japan und den USA sind Glasfaser-Backbones mit Kapazitäten
zwischen 2,5 und 10 Gbps geplant. Die Kosten allein für den Aufbau
dieses Telekommunikationsnetzes werden von der malaiischen Regierung auf
fünf Milliarden Dollar geschätzt. Neben diesen infrastrukturellen
Angeboten soll es für technologieimportierende Unternehmen außerdem
noch eine zehnjährige Steuerfreiheit und zahlreiche andere finanzielle
Anreize geben. Mahatir und seine Minister gehen allerdings davon aus, daß
die in den Korridor einziehenden Unternehmen innerhalb der nächsten
fünf Jahre durchschnittlich rund eine halbe Milliarde Dollar pro Anno
an Eigeninvestitionen mitbringen. Zu den 137 Unternehmen, die bisher ihr
Interesse am MSC bekundet haben, gehören zahlreiche internationale
Hard- und Softwarehäuser sowie Telekommunikationsgesellschaften, unter
anderem IBM, Microsoft, Sun Microsystems, Sharp, Siemens, British Telecom
und Japans NTT. Letztere hat jüngst eine konkrete Zusage gegeben,
20 Millionen Dollar für ein Entwicklungszentrum im MSC investieren
zu wollen - obwohl die noch zu 72 Prozent sich in staatlicher Hand befindliche
Telekom Malaysia als eigentlicher Betreiber der Infrastruktur des Korridors
vorgesehen ist.
Eine einmalige Verbindung von Technologie, wirtschaftlicher Kreativität
und Innovationsfähigkeit sowie politischer Kooperation will der Multimedia
Super Corridor bilden und so ein "perfektes globales Multimedia-Klima"
bieten. Ob das von der Multimedia Development Corporation, der Vermarktungs-
und Managementfirma des Korridors, als "Geschenk Malaysias an die
Welt" gepriesene Cyberprojekt allerdings jemals den virtuellen Status
auf den Planungscomputern seiner Architekten verläßt und auch
zum volkswirtschaftlichen Erfolg wird, ist spätestens nach der jüngsten
Währungs- und Finanzkrise im südostasiatischen Raum mit einem
großen Fragezeichen zu versehen. Obwohl Malaysia von den großen
Börseneinbrüchen in den Nachbarstaaten Thailand und Indonesien
Anfang September verschont blieb, erreichte die Landeswährung Ringgit
einen Rekordtiefstand gegenüber dem Dollar und verloren auch die malaiischen
Aktien an Boden. Schlimmer dürfte allerdings der Vertrauensverlust
sein, den Mahatirs direkter Eingriff in das Börsengeschehen und seine
harschen Vorwürfe an internationale Finanziers wie den Amerikaner
George Soros - der Premier beschimpfte ihn als "Banditen" und
"Schurken" - verursacht hat. Dabei sind weniger Spekulationen
als vielmehr ein handfestes Handelsdefizit für die Kursrutsche verantwortlich:
das Wall Street Journal schätzt, daß sich die Kluft zwischen
Importen und Exporten bis zum Ende des Jahres auf einen Anteil von bis
zu 5,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt ausweitet, das 1996 bei 99,2 Milliarden
Dollar lag.
Der Traum vom grenzenlosen Wachstum ist jedenfalls geplatzt, auch wenn
die Weltbank langfristig eine Wirtschaftssteigerung von knapp über
7 Prozent prognostiziert. Der malaiische Finanzminister Anwar Ibrahim sieht
sein Land den Winden der Globalisierung ausgesetzt, die nun den in zweiter
Generation industrialisierten Ländern aus sich noch ganz im Anfangsstadium
einer Modernisierung befindlichen Regionen entgegenwehen. "Wir müssen
in einen aggressiven Wettbewerb mit Billigproduzenten in Ländern wie
China und Vietnam treten", forderte er jüngst. Zudem will Malaysia
mit einem härteren Vorgehen gegen die weitverbreitete Korruption und
einem enger geschnürten Etat für 1998 um erneutes Vertrauen in
der Investorengemeinde werben und den Weg zu nachhaltigem Wachstum einschlagen.
Daß die Einzelmaßnahmen tatsächlich die Marktbeobachter
überzeugen können, glaubt allerdings keiner so recht. Zwar verspricht
die Regierung eine Senkung der Einkommenssteuer für Gewerbe um 2 auf
28 Prozent und weitere Investitionen in das Multimedia-Testgebiet. Doch
gleichzeitig wurde der Ausbau der vernetzten Regierungsstadt sowie das
Großprojekt eines Staudammbaus zunächst ausgesetzt; werden zur
Schließung des Handelsdefizits Einfuhrzölle für Investitions-
und Konsumgüter um durchschnittlich rund 5 Prozent angehoben und vor
allem der Import von Autos als "Luxusgütern" mit Zollerhöhungen
von bis zu 100 Prozent erschwert. Selbst Auslandsreisen stehen auf der
Schwarzen Liste der Regierung: eine Ausreisegenehmigung soll in Zukunft
bis zu 200 Dollar kosten.
Auch wenn Anwar Ibrahim seiner Etatrede voranstellte, daß "Malaysia
beschlossen hat, offen und pragmatisch im Umgang mit dem Wandel zu sein",
scheinen die Vorstellungen in westlichen und asiatischen Demokratien über
eine offene Gesellschaft doch weit auseinanderzuklaffen. Die vielbeschworenen
Asian values setzen den Konsens höher an als Freiheit und Konfliktlösungen,
selbst wenn sublimer oder offen-rigider Zwang an seinem Entstehen beteiligt
ist. Die Worte von einer multikulturellen Gesellschaft, freier Meinungsäußerung
und freiem Markt im Munde eines asiatischen Regierungsvertreters müssen
daher vom Westen anders interpretiert werden als in der eigenen Vorstellungswelt,
schließen diese Werte in den Augen eines asiatischen Patriarchen
doch keineswegs Zwangsregulierung und Kontrolle aus.
Inwieweit diese Haltung sich mit den angeblich doch so demokratischen
und hierarchielosen Welten des Internet verträgt, ist eine weitere
offene Frage. Bisher zumindest scheinen asiatischer Führungsstil und
das von seiner Natur her offen angelegte internationale Netzwerk noch recht
gut vereinbar zu sein, wie auch das Beispiel des benachbarten Singapur
lehrt. Denn mit Rating- und Kontrollmechanismen läßt sich jedes
Inter- in ein Intranet verwandeln, so daß auch das demokratischste
Wundermittel zumindest in begrenztem Rahmen kontrollierbar wird.