Krieg und Internet: Ausweg aus der Propaganda?

Stefan Krempl

 

 

 

Medien und globale Konflikte. Wie werden globale Konflikte in den Medien behandelt?

Tagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK)
in Verbindung mit dem Treffen des Netzwerk Medienethik

München, 20.02.2004

 

 

 

 

Ausgangssituation und Forschungsinteresse

 

Einzig verbleibende Supermacht nach dem Fall der Mauer: USA

Wirtschaftliche und technologische Überlegenheit

Instabile Lage, Terrorismus

Krieg als Mittel zur Konfliktlösung wieder verstärkt akzeptabel (Revolution in Military Affairs); bedarf als Rechfertigung in demokratischen Zivilgesellschaften aber enormen Propagandabemühungen über die Massenmedien, die häufig mitziehen.

Internet als Hoffnungsträger ("elektronische Agora", "Gegenöffentlichkeit")

Forschungsfrage: Wie werden Kriege und ihre Vorbereitungen in den Medien demokratischer Staaten diskursiv behandelt? These ist dabei, dass die neuen Technologien die mediale Konfliktbewältigung verändern.

Konkret: Kann das Internet mit seinen neuen Kommunikationsforen einen "diskursiven Mehrwert" zur Kriegsdarstellung und -verarbeitung in den traditionellen Massenmedien bieten und deren Informations- und Diskussionsdefizite ausgleichen? Entsteht im Netz eine "zweite Supermacht"?

 

 

 

Das System der Massenmedien in der Demokratie

Vermittlung von Wirklichkeit, Herstellung von Öffentlichkeit

Artikulierungs-, Kritik- und Kontrollfunktion ("vierte Gewalt")

Beeinflussung durch PR, Think Tanks, Public Affairs, Spin Doctors

Gerade in Kriegszeiten verschwimmt die Grenze zwischen Formen der Öffentlichkeitsarbeit und der Propaganda (verstanden als persuasive Kommunikationsform, die auf die manipulative Beeinflussung unterschiedlicher Zielgruppen angelegt ist), Infowar als Doktrin der totalen Informationskontrolle.

 

 

 

 

Medien und Militär

Kriegspropaganda hat eine lange Tradition

  • Vietnam: Krieg in den Wohnzimmern, kaum Zensur, Dolchstoß-Legende
  • Golfkrieg: Presse-Briefings, Medienpools, Ästhetik des Videospiels
  • Krieg gegen den Terror: neue Hochzeit der Propaganda (USA: Office of Strategic Influence im Pentagon) und von Verschwörungstheorien
  • Irak-Krieg: embedded journalism, Zusammenfall von information handling, image-making und war-making (Castells)

Als ich die rauchigen Straßen durch die winzigen gläsernen Gucklöcher des Bradley scannte und 'demontierte Iraker' suchte, wie die Panzerbesatzung die Infanteristen nannte, nahm ich die Szenerie nicht bloß im Hinblick auf eine Story wahr. Ich suchte nach Zielen.
David Zucchino (Los Angeles Times) 03.05.2003

Die Welt sah anschauliche Bilder von disziplinierten, gut trainierten US-Soldaten in Aktion. … Die Medien druckten und übertrugen die großartige Arbeit der Soldaten der 3ID(M) rund um die Welt, und dies akkurat und unverblümt.
Analyse der 3. (mechanisierten) US-Infanteriedivision

 

Historische Berührungspunkte zwischen Militär- und Medientechnik, aber Gegensätze im demokratischen Auftrag (Geheimhaltung vs. Aufdeckung).

Die Öffentlichkeit verlangt nach möglichst "authentischen" Informationen, geliefert am besten von neutralen Beobachtern der Lage vor Ort ("Heiliger Gral" der Kriegsberichterstattung).

Massenmedien gelten als besonders propagandaanfällig: strukturell voreingenommen, technologisch militarisiert und auch ökonomisch, politisch und individuell militarisierbar (Dominikowski), "Kriegstrommeln" (Beham).

Ursachen im System der Nachrichtenproduktion:

  • Enge Produktionsfaktoren und -grenzen (Zeitdruck, verfügbarer Raum für Informationen, Vorlieben von Redaktionen, Theorie der Nachrichtenwerte)
  • keine Reproduktion der Wirklichkeit an sich
  • repressiver Charakter (Enzensberger)
  • Propaganda- und Filtermodell von Herman/Chomsky

 

 

 

 

Das Internet als alternatives Medium

Das Netz erfüllt theoretisch viele der Anforderungen Enzensbergers an ein egalitäres Medium (dezentralisiert, jeder Empfänger ein potenzieller Sender, Interaktion und Feedback, Selbstorganisation und kollektive Produktion). Es gilt als Hort der freien und unzensierten Meinungsäußerung, Mythos der Unzensierbarkeit

"Bürgerpresse" und "Independent Media Center"

Kontrollrevolution und Disintermediation

Wir leben in einer Zeit, in der viele Autoritätsfiguren ihren Status verlieren: Gesetzgeber und andere Regierungsvertreter, Berufsjournalisten, Mittelsmänner im Handel oder Ausbilder. Hierarchien zerfallen. Gatekeeper werden übergangen. Macht wird an die 'Endnutzer' übertragen.
Shapiro 1999

Hybridmedium (interpersonelle, massenmediale und maschinelle Kommunikationsmöglichkeiten, erweiterter Informationsraum mit Foren wie Mailinglisten und Weblogs

Mailingliste nettime: 1995 von Pit Schultz und Geert Lovink gegründet, europäischer Gegenspieler zum US-Magazin Wired -- selbsterklärte, intellektuelle Elite" -- kollektives Textfiltern -- Höhepunkt während des Kosovo-Kriegs

Weblogs lassen sich beschreiben als Fortsetzung des Logbuchs auf der Raumschiff Enterprise mit netzspezifischen Mitteln.

Warblogs: Politisierung und wachsende Bekanntheit der Blogs im Zuge des 11. September. Rechtskonservative Geister wie Instapundit oder Andrew Sullivan besetzten das Gebiet.

Links von der Mitte stehende Köpfe wie Sean-Paul Kelley mit dem Agonist oder Markos Moulitsas Zúniga mit DailyKos verlegten sich erst Mitte 2002 aufs Bloggen. "Warblogs.cc" als Meta-Blog (Nachrichtenportal für Kriegsgegner).

Spätestens mit dem Irak-Krieg rückten Warblogs ins Zentrum der Aufmerksamkeit -- Phänomen wurde bekannt vor allem dank Salam Pax, dem Bagdader Netzchronisten, durch Journalistenblogs wie das von CNN-Reporter Kevin Sites oder bloggende G.I.s wie Sgt. Stryker, Chief Wiggle oder Lt. Smash-us.com, dem Mann aus der Sandbox (inzwischen "Citizen Smash").

 

Die Blogosphäre als die "zweite Supermacht" (Jim Moore)?

Stellt sich in den Online-Foren ein diskursiver Mehrwert gegenüber den traditionellen Massenmedien ein?

Probleme: Rauschen, Information Overload, Geständniszwang (Foucault), Ekstase der Kommunikation (Baudrillard)

 

 

 

 

Kosovo-Studie

Vergleich von nettime mit anspruchsvollen Tageszeitungen: Süddeutsche Zeitung ("Stilmittel Zweifel") und New York Times ("Gewissen der Nation").

Methode: Integration der quantitativen Inhaltsanalyse (Erschließung des Untersuchungsgegenstandes) mit den qualitativen Elementen der Kritischen Diskursanalyse (Verdichtung des Themenkomplexes auf Kategorien und übergreifende Argumentationsmuster und -strategien) und der Leseweisenanalyse gemäß des von Hall geprägten Ansatzes der Cultural Studies (Aufdeckung von mitgedachten Intentionen und versteckten Machtbeziehungen, Entschlüsseln eines oppositionellen Codes).

Analysezeitraum: Hochzeit des Kosovo- und des Irak-Kriegs (März bis Juni 1999)

Auswahl von 87 kategoriellen Textmerkmalen von A wie Aktion bis Z wie Zivilopfer, Verdichtung zu acht Diskurstypen

1. Rechtfertigungs- und Moralisierungsdiskurs
2. Pro-Nato-Diskurs (Vorteil NATO)
3. Anti-Kriegsdiskurs
4. Pro-Serben-Diskurs (Vorteil Serben)
5. Unentschiedenheitsdiskurs
6. Spieler- und Akteursdiskurs
7. Diplomatischer Verhandlungsdiskurs
8. Selbstreflexiver Mediendiskurs

 

Die Times liegt im Rechtfertigungsdiskurs weit vorn:

 

Die Nettimer üben am meisten Kriegskritik:

 

Die Listenmitglieder sind auch im selbstreflexiven Mediendiskurs führend und lassen NATO-Akteure so gut wie nicht zu Wort kommen.

Die New York Times punktet mit ihrer großen Bandbreite im Spielerdiskurs, verfällt aber häufig einer "Hofberichterstattung" aus dem Pentagon.

Gravierende Ausschläge gibt es bei der Süddeutschen Zeitung in so gut wie keinem Diskursfeld zu verzeichnen. Sie liegt allein im Unentschiedenheitsdiskurs vorn.

 

Süddeutsche Zeitung

  • Gravierende Ausschläge gibt es bei der Süddeutschen Zeitung in so gut wie keinem Diskursfeld zu verzeichnen; sie liegt allein im Unentschiedenheitsdiskurs vorn.
  • Rechtfertigungsdiskurs wird von der NATO und der Bundesregierung bis ins Detail hinein im politischen Teil übernommen
  • häufig stark polemisch geprägte Kriegskritik im Feuilleton
  • Zensurmethoden der NATO und das Internet spielen kaum eine Rolle.

 

New York Times

  • Schier jede Äußerung von Regierungsbeamten oder NATO-Sprechern über den "Völkermord" im Kosovo wird festgehalten und unhinterfragt weitergegeben
  • Strategie des Luftkriegs wird hinterfragt
  • zwei Jugoslawien-Korrespondenten führen akribisch Buch über die Fehltreffer der NATO und beschreiben -- häufig in literarischer Breite -- die Schicksale der unter den Bomben leidenden Menschen
  • Elemente psychologischer Operationen, direkte und sanfte Zensur und der hinter den Kulissen tobende Infowar werden klar beschrieben
  • das Internet wird als neues Medium dargestellt, das Zensur umgehen kann und die Stimmenvielfalt erhöht.

Nettime

  • Oppositioneller Diskurs (die Kriegskritik) wird zum dominanten, bevorzugten Diskurs
  • serbische Tagebücher und Augenzeugenberichte machen den Krieg für alle Listenmitglieder plastisch
  • die Propagandabemühungen aller Seiten werden ständig evoziert
  • überaus breites, buntes und vielstimmiges Meinungs- und Informationsangebot, in dem sich Analysen der Listenmitglieder abwechseln mit weitergeleiteten Einschätzungen linker intellektueller Größen
  • interner, auch auf der Meta-Ebene ausgetragener Kampf um die über die Liste verbreiteten Informationen (hoher Grad an Selbstreflexivität)
  • gerade in den Anfangswochen starker, von vielen Listenmitgliedern als belastend empfundener Nachrichtenfluss
  • fehlende Stimmen der Kosovo-Albaner (kein Zugang zum Netz).

 

Fazit Kosovo: Nettime bildete während des Kosovo-Kriegs eine wichtige Ergänzung zu den Kosovo-Diskursen in der New York Times und in der Süddeutschen Zeitung.

Ansätze für eine offenere, unterschiedliche Lesarten aushandelnde und vermischende Medienplattform.

Die von den Listenteilnehmern praktizierte Methode des kollektiven Textfilterns sorgt für eine weit gespannte Diskursübersicht.

Die Zeitungsredaktionen schöpfen aus einem Pool erfahrener Journalisten, die über gute Beziehungen zu den "großen Spielern" im politischen und militärischen Geschäft verfügen und so immer wieder aufschlussreiche Analysen verfassen und Ereignisse in Gesamtkomplexe einordnen können. Die großen Zeitungsnamen ziehen Intellektuelle an, die "exklusiv" Stellungnahmen abgeben.

Nähe zu den Quellen aber auch prekär: leichtfertigere Übernahme des Rechtfertigungsdiskurses, häufig werden anonyme "officials" zitiert, kaum journalistischer Ehrgeiz zu erkennen, Ereignisse und Verlautbarungen zu hinterfragen, spektakuläre Falschmeldungen und Nato-Speak.

 

 

 

 

Irak-Studie

Salam Pax berichtet aus der Froschperspektive, statt aus der Vogelperspektive der fallenden Bomben, Äquivalent zu den serbischen Tagebuchautoren

Es gab Tage, als der Rote Halbmond um Freiwillige bettelte, die helfen sollten, die Körper der Toten von den Straßen der Stadt wegzutragen und angemessen zu begraben. Die Hospitale verwandelten sich in Friedhöfe, sobald der Strom ausfiel, und es gab keine Möglichkeit, die Leichen aufzubewahren, bis jemand kommt und sie identifiziert.

Schlacht um die Interpretationshoheit der von der Front und aus den Regierungssitzen strömenden Informationen zwischen rechten und linken Warbloggern in den USA: Kampagnen gegen liberale Medien wie die Times oder die BBC durch konservative Blogger. Die linken Blogger lenken die Augen der Leser dagegen immer wieder auf Propagandalügen, auf Desinformationen der offiziellen Seite und der "gleichgeschalteten" Medien, auf die finanziellen und sozialen Kosten des Kriegs sowie auf Anhaltspunkte für Sand im Getriebe der amerikanischen Militärmaschine. Bush steht im Zentrum der Kritik.

Ein besonderer Streich in journalistischer Hinsicht gelang Christopher Allbritton mit seinem Logbuch Back to Iraq. Berichtet aus dem Nordirak mit dem guten Gefühl, "dass ich zum ersten Mal in meiner dreizehnjährigen Zeit als Journalist eine Berichterstattung mit nur einer einzigen Verantwortung ausüben kann -- der gegenüber den Lesern." Debatte um "Mikro-Journalismus".

Fazit Irak: Zusammengenommen bilden die Warblogger die exakten Gegenspieler zu den embedded correspondents. Sie sind nur ihrer eigenen Propagandaschere im Kopf unterworfen und nur ihren Lesern verpflichtet.

Blogging skizziert eine Welt von Individuen, von Leben und Tod, Leiden und Verlangen, so wie die eingebettete Berichterstattung eine Welt militärischer Ziele und Kampagnen, eine Welt von Sieg und Niederlage malte.
Julie Hilden im Online-Magazin FindLaw

In der Blogosphäre entsteht eine Art "Reality-Web" mit wachsenden Nutzerzahlen: Pendant zum Reality-TV -- bloß ohne dessen entstellende Faktoren wie die grundsätzliche Inszenierung des Gezeigten oder die überzogenen Show-Effekte. Während das Reality-TV die Wirklichkeit simuliert und wirklicher als die Wirklichkeit zu sein versucht, lebt das Reality Web von Stimmen, die eine persönliche Sicht auf die Dinge liefern. Gezeigt oder beschrieben werden dabei auch die hässlichen Seiten von Ereignissen, die Toten des Krieges und das Eindringen von sonst immer weit weg erscheinenden Konflikten in verständliche Kontexte und in die eigene Lebenswelt.

Angesichts der Tatsache, dass nach wie vor viel mehr Mediennutzer fernsehen, als im Web persönliche Kriegslogbücher zu studieren, hat das embedded reporting im Irak-Krieg noch die Marschordnung des Tages ausgegeben.

 

Resümee

Weblogs und Mailinglisten haben sich als fester Bestandteil des täglichen Medienmixes informationshungriger Surfer etabliert.

Die Bandbreite der Stimmen, die teils authentisch aus erster Hand berichten oder die Fülle der Informationen im Web filtern, hat sich deutlich erhöht. Wer in diese Infosphäre eintaucht und sich nur halbwegs auf sie einlässt, dem wird es schwer fallen, den gerade in Kriegen überhand nehmenden offiziellen Propagandabemühungen Glauben zu schenken. Online-Kommunikationsforen schaffen die Möglichkeit, einen neuen, personalisierten und vernetzten Blick auf die medienvermittelte Wirklichkeit und die Alltagsrealität zu werfen.

In Reinform ist eine kompakte "Gegenöffentlichkeit" auf den ersten Klick im Netz aber nicht zu finden. Medienkompetenter Nutzer gefragt. Hindernisse: Zugangsprobleme (digital divide), Zensurbemühungen und fortschreitende Kommerzialisierungstendenzen.