Etwas "ganz
Großes" wittert Jeff Wood, Analyst beim Marktforschungsinstitut
Gartner. Seine Kollegen von Forrester Research haben bereits einen Namen
dafür: sie sprechen vom "erweiterten Internet". "Alles
wird eindeutig identifizierbar und verfolgbar", prophezeit John Gage,
Chefforscher beim Workstation-Spezialisten Sun Microsystems, im Hinblick
auf das neue Vernetzungspotenzial. "Get chipped", fordert die ins
Trudeln gekommene Hightech-Firma Applied Digital Solutions aus Florida gar
die US-Bürger in einer Werbekampagne für ihren "VeriPay"-Chip
auf, der statt einer Geldkarte seinem Träger gleich direkt unter die
Haut implementiert wird. Zentrum des neuen Hypes, in dessen Zuge endlich
die gesamte Welt mit winzigen Computerprozessoren bestückt und damit
maschinenlesbar werden soll, sind die vier Buchstaben RFID. Sie stehen für
Radio Frequency Identification, eine Methode zur Erkennung von Gegenständen
und Lebewesen anhand eindeutiger, von Rechnern auslesbarer "Seriennummern" mit
Hilfe von kaum sandkorngroßen Funkchips.
Die Mini-Transponder sollen vor allem im Handel Kosten sparen durch die
bessere Kontrollierbarkeit von Warenflüssen und Logistik. Geht es
nach der Industrie, werden sie schon bald den Streifencode ersetzen,
mit dem viele Artikel schon
heute elektro-optisch gescannt und identifiziert werden können. "Jedes
Produkt erhält ein Kennzeichen wie beim Auto", freut sich Kerry
Clark, Leiter der globalen Marktentwicklung beim Konsumgüterriesen
Procter & Gamble.
Damit will er der "Tonne von Geld nachjagen, die in der noch nicht
gut gemanagten Lieferkette schlummert." Sein Haus plant, bis 2005
rund 80 Prozent seiner nordamerikanischen Produktlieferungen mit der RFID-Technik
auszurüsten. Die gekennzeichneten Artikel wären dann jederzeit
einzeln verfolgbar auf dem Weg aus dem Lager zum Geschäft bis in die
Hände der Verbraucher. Dem Handelsriesen Wal-Mart geht das nicht schnell
genug: er verlangt von seinen Zulieferern, dass sie ihr gesamtes Sortiment
im Laufe dieses Jahres mit den "smarten Labels" versehen. Laut
amerikanischen Medienberichten will der Konzern drei Milliarden US-Dollar
investieren, um seine Infrastruktur mit Lesegeräten und Auswertungsprogrammen
für die RFID-Revolution fit zu machen. Auch das Pentagon, einer der
großen Regierungskunden in den USA, will von 2005 an nur noch Waren
mit intelligentem Mikroausweis akzeptieren.
Transponder sind eigentlich keine Neuerfindung. Schon von 1940 an wird
ihr militärischer Gebrauch kolportiert, etwa zur Freund-Feind-Erkennung
alliierter Flugzeuge. Seit 1977 sind die Funkchips für zivile
Anwendungen freigegeben. 1997 wurden sie bereits zur Identifikation
von Milchkühen
in den USA verwendet, was durch BSE-Fälle jenseits des Atlantiks
nun wieder zur Rückverfolgung der Rinderseuche in Mode kommt.
1984 startete die RFID-Serienproduktion, seit 1988 sind industrielle
Anwendungen bekannt.
Heute kommen die schlauen Etiketten (Tags) in Autos als Wegfahrsperre
längst
genauso zum Einsatz wie bei der Umlaufkontrolle in Brauereien und Bibliotheken,
der Gepäckstücküberwachung im Reiseverkehr oder der
Behälteridentifikation
bei der Müllentsorgung. Zum Verfolgen von Tauben oder Bienen werden
sie verwendet, aber auch zur Weg- und Zielkontrolle von Sportlern wie
Marathonläufern.
In vielen Firmen dienen die kontaktlosen Chips als personenbezogene
Zugangsberechtigung oder als moderne Form der Stechuhr. Amerikanische
Casinos bauen auf die hochfrequenten
Körnchen, um Betrug mit ihren Jetons zu verhindern. Die FIFA will
die Sicherheit in Stadien bei der Weltmeisterschaft 2006 durch ein
E-Ticket mit
Funkwellen-Identifizierung erhöhen.
Den Boom ausgelöst haben neue Prozessorproduktionsverfahren. "RFID-Chips
sind heute nicht nur leistungsfähiger, sondern auch um ein Vielfaches
billiger zu fertigen", weiß Klaus Finkenzeller, Transponderexperte
bei der Münchner Geld- und Chipkartenfirma Giesecke & Devrient.
Gefragt sind vor allem passive Funkchips. Sie lassen sich im günstigen
CMOS-Verfahren in großen Stückzahlen produzieren. Alle Schaltungsbestandteile
sind dabei auf einem millimetergroßen Siliziumbaustein vereint,
weiß Gerd
vom Bögel, RFID-Fachmann am Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische
Schaltungen und Systeme in Duisburg: Energie-Extraktor, Sensorelemente,
A/D-Wandler, Mikroprozessor, Speicher für Kalibrierungsdaten und
Identifikationsnummer einschließlich Antenne. Der smarte Staub
gibt seine Kennung erst preis, wenn ihn das elektromagnetische Feld eines
Lesegeräts mit der dazu benötigen
Energie versorgt. Die Reichweite ist im Gegensatz zu aktiven, batteriebetriebenen
Transpondern auf meist nicht mehr als zwei Meter begrenzt. Besonders
winzige RFID-Tags wie der nur 0,4 Millimeter breite µ-Chip von
Hitachi, der nach offiziell nicht bestätigten Berichten auch in
Euroscheinen bald Betrügern entgegenfunken könnte, sind nur über
eine Entfernung von wenigen Millimetern lesbar. Dadurch soll verhindert
werden, dass Diebe
mit entsprechenden Lesegeräten schon von mehreren Metern Distanz
aus die Güte potenzieller Opfer analysieren.
Einem größeren Publikum bekannt geworden sind die SmartLabels
mit ihrem Einzug in ein "Extra"-Geschäft der Metro-Gruppe
in Rheinberg bei Düsseldorf seit April 2003. Der als "Future
Store"
aufgezogene Supermarkt gilt dem Handelskonzern zusammen mit einer Handvoll
niederrheinischer Kaufhof-Filialen als Testbett für die Einführung
der intelligenten Etiketten. Sie sorgen dort dafür, dass der Bestand
gekennzeichneter Produkte ständig überwacht werden kann.
Die Daten der RFID-Tags werden in einem Zentralrechner, dem so genannten
RFID-Warenfluss-System,
gesammelt. Alle Partner der Logistikkette, also Handel, Zentraleinkauf,
Warenlager, Zwischenhändler und Hersteller, haben Zugriff auf
diese Datenbank. Die "smarten
Regale" sollen verhindern, dass ein Produkt nicht vorrätig
ist. Die gekauften Artikel können die Shopper mit dem PDA ihres
Einkaufswagen gleich einscannen. Dann zahlen sie wie gewohnt an einem
Terminal bar oder
mit Karte.
Es werden auch vollautomatisierte "Selbstzahlerkassen" getestet:
Der Kunde zieht seine Artikel über einen 360-Grad-Scanner und
erfasst die Preise. Anschließend legt er die Produkte in eine
Warentüte,
die automatisch gewogen wird. Weicht das Ergebnis der von dem der
gescannten Erzeugnisse ab, erhält ein Mitarbeiter am Informationsschalter
eine automatische Meldung. Stimmt es überein, werden die Tags
entwertet und die Produkte aus dem Warenwirtschaftssystem ausgebucht.
Partner beim Future
Store sind Firmen wie Cisco, IBM, Intel, SAP sowie seit Januar auch
Microsoft. Der Softwaregigant will mit seiner "Smarter Retailing
Initiative" dem
Handel helfen, Warensortiment und Kundenströme besser im Blick
zu haben. Die Metro AG selbst hat angekündigt, von November
2004 an 100 Lieferanten und 250 Warenhäuser und Verbrauchermärkte
der Gruppe mit RFID-Systemen bei Paletten und Transportverpackungen
zu versehen. Bis 2007 sollen sämtliche
800 Konsumtempel und Lieferzentren in Deutschland umgerüstet
werden.
Die zahlreichen Einzelinitiativen auf der Transponderebene werden gebündelt
durch gemeinsame Normen. Der Durchbruch kam im Jahr 2001 mit dem ISO-Standard
14443 Proximity Card, dem ein halbes Jahr später ISO 15693 Vicinity
Card folgte. Die Pläne der Techniker gehen aber weiter. Projekte
wie EPCglobal, eine Gemeinschaftsunternehmung
der schon
bei den Barcodes wichtige Rollen spielenden EAN (European Artifical
Numbering Association) und des UCC (Universal Code Council), haben
es sich zur Aufgabe
gemacht, alles, was über ein Produkt gespeichert werden kann,
auf Servern vorzuhalten. Das Auto ID Center, ein Verbund von Forschungszentren
unter
Führung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit rund
100 Unternehmen, hat dazu eine spezielle Physical Markup Language (PML)
nach
dem Vorbild von HTML entwickelt. Sie gilt als Basis für das "Internet
der Dinge", das ähnlich dem EDIFACT-Standard oder dem Domain
Name System (DNS) ein festes Informationsverzeichnis für alle
dank RFID "vernetzten" Gegenstände
und Lebewesen bilden soll. Zum Hüter des Dienstes hat EPCglobal
die kalifornische Firma VeriSign bestimmt, die auch im klassischen
DNS-Geschäft
führend ist. Grundlage für PML als standardisierte "Sprache" für
die Speicherung von Daten über Objekte ist ein XML-Schema. Eine
erste Spezifikation hat
das Auto ID Center im November vorgestellt, bevor es sich auflöste
und den Weg für EPCglobal freimachte.
Sein Nachlass wird von den Auto
ID Labs verwaltet,
einer
Einrichtung, der die Universität St. Gallen mit ihrem Ubiquitous
Computing Lab vorsteht.
Bereits für dieses Quartal angekündigt ist auch die Spezifikation
1.0 des Electronic Product Code (EPC). Neben Metro machen sich in
Europa die britische Supermarktkette Tesco und die weltweit zweitgrößte
Handelsfirma, die französische Carrefour, gemeinsam mit Intel
für
die schnelle Einführung des Strichcode-Ablösers stark.
Der Standard sieht eine 96-Bit-Implementierung vor, welche die eindeutige
Vergabe von über
68 Milliarden Seriennummern weltweit erlaubt. Theoretisch können
bis zu 268 Millionen Hersteller mit jeweils 16 Millionen Produkten
identifiziert
werden. Intel hofft im Zug des flächendeckenden Einsatz des
EPC, die eigenen 64-Bit-Itanium-Prozessoren besser verkaufen zu können:
die Speicherung und Auswertung der bei allgegenwärtigen RFID-Scans
anfallenden gigantischen Datenmengen benötigt leistungsfähige
Server.
Dank der vorankommenden Standardisierung und dem Preisverfall bei
den passiven Transpondern, die Experten bald auf dem Niveau von
zehn Cent
sehen, erwarten
Unternehmensberater einen weiteren Boom in der kontaktlosen Chipkommunikation.
Die Technik sei halbwegs ausgereift, so das Credo der meisten Institute.
Auch wenn Matt Reynolds vom Transponderfabrikanten ThingMagic jüngst
auf Schwierigkeiten hinwies, die Metallfolien oder selbst Flüssigkeiten
den schlauen Etiketten bereiten: "Jedes leitende Material
kann die Funksignale abschotten", erklärte der Fachmann.
Dennoch rechnen die Auguren des Marktforschungsinstituts IDC mit
einem erheblichen Anstieg der Investitionsausgaben
für RFID-Implementierungen. Allein Einzelhandelszulieferer
in den USA könnten sich die Einführung der Technik bis
2008 bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar kosten lassen. Das entspräche
dem 14-fachen der Ausgaben in 2003. Die Ausstattung der Firmen
mit der nötigen Hardware werde 2007
ein Investitionsvolumen von 875 Millionen US-Dollar erreichen.
Die Kollegen bei Frost & Sullivan sehen den Gesamtmarkt für
Funkchips 2006 sogar bei über vier Milliarden Euro.
Großhersteller der speziellen Halbleiter wie Infineon, Philips Semiconductors
oder Texas Instruments können sich angesichts dieser Zahlen
freuen: Philips will bereits eine Milliarde RFID-Etiketten verkauft
haben. Infineon
versucht die Nachfrage mit einem in Kooperation mit dem australischen
Spezialisten Magellan Technologies Transponder anzukurbeln, der
für den neuen ISO-Standard
18000 Part 3 Mode 2 ausgelegt ist und gleichzeitig die berührungslose
elektronische Identifizierung von mehreren hundert Objekten oder
von schnell bewegten Gegenständen ermöglichen soll.
IBM und Sun haben spezielle Labors in den USA beziehungsweise
in Schottland eingerichtet, in denen Kunden
die Integration der Tags in Backend-Systeme und in die Versorgungsketten
von Partnern testen können.
Großer Unmut über die "Schnüffel-Chips" (www.spychips.com)
herrscht dagegen bei Verbraucher- und Datenschützern:
Die amerikanische Initiative CASPIAN (Consumers Against Supermarket
Privacy Invasion and Numbering)
warnt regelmäßig vor dem Überwachungspotenzial
der verräterischen
Etiketten, das sich vor allem in Zusammenhang mit den omnipräsenten
Kunden- und Bonuskarten ausspielen lasse. Nach Boykottaufrufen
legten Firmen wie Gillette oder Benetton RFID-Pläne kurzfristig
auf Eis. Der "Future
Shop" der Metro erhielt zudem kürzlich den deutschen
Big Brother Award. Doch mittelfristig dürfte das den Siegeszug
der kleinen Spione kaum aufhalten. Ein "ganz, ganz ungutes
Gefühl" beschleicht
daher Helmut Bäumler, einen der rührigsten Landesdatenschutzbeauftragten
in Deutschland, beim Gedanken an eine Gesellschaft, in der "man
an vielen Gegenständen unsichtbare, kleine Peilsender
hat". RFID könne
zum "Horror-Thema" werden, wenn die Kennzeichnung
von Gegenständen
benutzt werde, um Menschen auszuspionieren.
Der gläserne Bürger und Konsument – mit dem Netz der Dinge
könnte er endgültig Wirklichkeit werden. Ein unter
dem Pseudonym padeluun bekannter Netzaktivist vom Bielefelder
FoeBuD-Verein warnt daher
eindringlich vor den auch in Europa propagierten Plänen
der US-Regierung, Pässe mit auslesbaren Identifizierungscodes
zu versehen: "Menschen
als Nummern automatisch abfragbar zu haben, ist ein Verbrechen." Jedes
Individuum müsse sich unbeobachtet von Maschinen bewegen
können.
Schwer im Magen liegt den Datenschützern, dass die Funkchips
vermehrt als Allheilmittel gegen Diebstahl und Sicherheitsgefährdungen
angesehen und Studenten, Kunden oder Kleinkinder lückenlos überwacht
werden. FoeBuD, CASPIAN und zahlreiche andere internationale
Bürgerrechtsorganisationen
dringen daher auf ein Moratorium vor dem Einsatz der verräterischen Transponder in großem
Maßstab.
Sie verlangen eine ernsthaft vorangetriebene Technikfolgenabschätzung.
Um dem Appell Nachdruck zu verleihen, entwickelt der FoeBuD
einen "DataPrivatizer".
Das Gerät soll gezielt RFID-Tags auf die Spur kommen
und die Bürger über
deren Integration in Alltagsgegenstände aufklären.