Stefan Krempl

 

Einleitung
Was sind Medien und wie gestalten sie die Wirklichkeit?

Medien und ihre Bedeutung für den Menschen zu erfassen, ist eine vielschichtige Angelegenheit. Wie allein ein Blick auf die Zitate-Seite zeigt, ist vielen weisen und weniger weisen Forschern so ziemlich aller Disziplinen schon so Manches, nicht immer miteinander Harmonisierendes zu den Werkzeugen/Kommunikationsmitteln/Stützen/Weltvermittlern eingefallen.

Rudolf Maresch hat in seiner Einleitung zum Buch "Medien und Öffentlichkeit", das selbst natürlich in medialer Form (eben als Buch) daherkommt, eine stolze Palette an Deutungen von Medien zusammengestellt. Demnach wurden und werden Medien u.a. schon als “Extensionen des Menschen” (McLuhan) oder “Prothesen” (Virilio), als “mitschreibendes Werkzeug” (Kittler) oder “neutrale Mittler” (Brecht et al.) beschrieben oder auf Basis des (technischen) Informationsbegriffs (C. E. Shannon) einer “Medium-Form”-Unterscheidung (Luhmann) unterzogen (Maresch 1996, 17).

Das Interessante an den Medien ist, dass es sie schon seit schier ewigen Zeiten gibt, dass sie aber erst seit wenigen Jahrzehnten wissenschaftlich ernsthaft erforscht werden. Auf philosophischer oder literarischer Ebene gibt es zwar spätestens seit Platons berühmten Phaidros-Dialog -- der zugleich die Geburt der Medienkritik aus dem Geiste der griechischen Ideenlehre kennzeichnet -- eine intensive Auseinandersetzung und Diskussion über die Medien und ihre Wirkungen auf den Menschen (>>> Auszug aus dem Phaidros, in dem es um die Vor- und Nachteile des Mediums Schrift geht). Die Geburtsstunde der modernen Medienwissenschaft schlägt allerdings erst in den Sechzigern des 20. Jahrhunderts mit dem kanadischen Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan, der gleich mit vollem (und religiösem) Eifer zur Tat schreitet und die neue Zunft mit Losungen wie "the medium is the message" oder "global village" versorgt (auch wenn zumindest die erste Botschaft in seinen ersten Büchern derart pointiert gar nicht wörtlich auftaucht).

Die neuzeitliche Wissenschaft wird sich der Medien als Untersuchungsobjekt und Bedeutungsfeld also erst in der Spätmoderne bewusst. “Auch vorindustrielle und vorneuzeitliche Kulturen waren, wenn nicht auf viele Medien, so doch auf ein sie homogenisierendes Leitmedium angewiesen. Wer jedoch in alten und auch in gar nicht so alten Lexika unter dem Stichwort 'Medium‘ nachschlägt, wird auf seltsame Eintragungen stoßen” (Hörisch 1998, 28). Auch die Lexika bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus handeln “unter dem Begriff 'Medium‘ u.a. von den Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft, vom spiritistischen Medium, von Mitte und Vermittlung, nicht aber von Schallplatten, Kino, Radio und Fernsehen” (ebd.).

Den Grund für das späte wissenschaftliche Interesse an den Medien sieht Hörisch darin, dass erst mit der “Multimediagesellschaft” den Menschen und den Forschern voll bewusst wurde, “daß es wirkungsvolle, versammelnde, Tiefenstrukturen von Kulturen prägende Massenmedien wenn nicht immer schon, so doch über Jahrtausende gegeben hat.” Erst die Einsicht, “daß wir wohl irreversibel eine homogene Medien-Galaxis verlassen haben”, habe den “fernen Rückblick” auf die Mediengeschichte, die für Hörisch letztlich immer eine “Massenmediengeschichte” ist, freigegeben und ermöglicht (ebd.).

>>> Hörisch, Jochen (1998): Einleitung zu: Ludes, Peter (1998): Einführung in die Medienwissenschaft. Entwicklungen und Theorien. Berlin (Erich Schmidt), 11-32

>>> Mediendefinitionen -- Leitmedien

Medien und Wirklichkeit

Die Grundfunktion von Medien bestand von Anfang an darin, Informationen zu speichern und zu beschleunigen. Medien geben unserem Leben künstliche Wahrheiten und willkürlich festgelegte Werte (vgl. McLuhan 1968, 217).

Medien und insbesondere die "Massenmedien" sind zur wichtigsten Vermittlungsinstanz von Wirklichkeit in unserer Gesellschaft geworden. Durch sie wurde unser Horizont ungemein erweitert, der Blick in die entlegensten Gebiete auf unserem Globus ermöglicht. “Mehr als 300 000 Zeitungen und Zeitschriften erscheinen weltweit, etwa 30 000 Hörfunk- und rund 3000 TV-Kanäle sind, manche rund um die Uhr, zu empfangen, in mehr als 6000 Datenbanken sind unzählige Informationen gespeichert ... Der Planet Erde ist von einer riesigen aus Sendern und Empfängern, Kabeln und Computern bestehenden netzartigen Informationsmaschine umhüllt” (Der Spiegel Nr. 14/1993, 150).

Medien codieren einen Ausschnitt der Wirklichkeit, eine Vorstellung von Realität oder auch eine Fiktion und übersetzen diese in eine spezifische Zeichensprache. Dadurch entsteht eine neue Wirklichkeit, die Züge der spezifischen Zeichenvermittlung trägt, die den Gebrauch einer bestimmten Technologie ausmacht. Der Einsatz von Technologien verwandelt so mittelbar auch die Werte und Wahrnehmungsweisen einer Kultur. “Technologien verändern die Strukturen unserer Interessen -- die Dinge, über die wir nachdenken. Sie verändern die Beschaffenheit unserer Symbole -- die Dinge, mit denen wir nachdenken. Und sie verändern das Wesen der Gemeinschaft -- die Arena, in der sich Gedanken entfalten” (Postman 1992, 28). Das hat bereits McLuhan mit seiner berühmten Formel zum Ausdruck: “Denn die 'Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.” Das Medium wird zur Botschaft, “weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert” (1968, 14).

Wie gestalten diese technischen Kommunikationsformen nun die Realität? Dass Massenmedien die kulturelle Wirklichkeit nicht einfach abbilden, dürfte nach dem oben Gesagten über den Einfluß der Technologie auf die Strukturierung der Wirklichkeit klar sein. Denn formale Strukturen wirken von vornherein auch auf den Inhalt: Medien können immer nur einen selektierten Ausschnitt der Wirklichkeit übermitteln, da sie aus organisatorischen oder technischen Zwängen (Zeitdruck, verfügbarer Raum für Informationen) nur bestimmte Aspekte in ihre Berichterstattung aufnehmen können. Zum anderen greifen auch die Vermittler, die Journalisten, selektiv in den Prozeß der Informationsweitergabe ein. Faktoren wie Aktualität, Ereignishaftigkeit oder einfach eigenes bzw. vom Publikum erwartetes Interesse werden wirksam. Natürlich hat auch der Besitzer bzw. der Redaktionschef Einfluß auf die “Linie” der Informationsgestaltung.

Alles zusammengerechnet geht die Nachricht über ein ursprüngliches Ereignis also erst mal durch die verschiedensten Hände und Produktionsstationen: Wie beim “Stille Post”-Spiel, bei dem einer dem anderen etwas ins Ohr flüstert, bis am Ende ein völlig neuer Sinngehalt herauskommt, entsteht die Mediennachricht als neue, eigene Wirklichkeitsdarlegung. Letztlich “kann es mitunter völlig unerheblich sein, ob für die Informationen auch intersubjektiv feststellbare 'faktische‘ Entsprechungen existieren, entscheidend ist nur, daß die Nachrichten von denen, die sie erfahren, als 'wirklich‘ akzeptiert werden. Ist dies der Fall, dann sind die Nachrichten 'Realität‘, zumindest sind es ihre Konsequenzen” (Schulz 1976, 28).

Man kann also davon sprechen, dass Medien nicht nur Erfahrungen aus “zweiter Hand” vermitteln, sondern zugleich eine eigene Wirklichkeit aus den Aspekten der von ihnen aufgegriffenen Realität schaffen. Massenmedien kommt eine Thematisierungs- und eine Strukturierungsfunktion zu. Dabei fokussiert die Berichterstattung oft anhand von Stereotypen der Journalisten Entwicklungen auf ihre Grundaussagen; und auch der Umfang der Darstellung von Problemen in den Medien und ihre redaktionelle Darbietung, z. B. durch eine bestimmte Plazierung, bestimmen nach Auffassung der Agenda-Setting-Forschung die Wahrnehmung und die Einschätzung dieser Konflikte.

Allgemeines Resümee der Medienforschung ist deshalb “die Feststellung, daß die Massenmedien in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren. Die Berichte der Medien sind oft ungenau und verzerrt, sie bieten manchmal eine ausgesprochen tendenziöse und ideologisch eingefärbte Weltsicht. Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie die Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung” (Schulz 1989, 139).

Was haben diese Ausführungen über die Medienwirklichkeit nun mit Medientheorie im engeren Sinne zu tun? Medientheorie hat laut Hartmann den Anspruch, "den Sinn des Medialen unabhängig vom Inhalt zu dechiffrieren." Das wichtigste auf dem Weg zu diesem hehren Ziel sei es dabei, "von einer ebenso grundlegenden wie verführerischen Annahme abzurücken: von der Annahme einer medialen Repräsentation von Welt nämlich. Vom Versprechen der Medien, uns die Welt ins Haus zu liefern." Dieses Gelöbnis könnten die Medien nämlich gar nicht erfüllen. Das eigentliche Versprechen von Medientheorie sei dagegen eben zu zeigen, dass die Medienwirklichkeit eine gemachte ist. "Es geht letztlich ... um die schlichte Einsicht, dass so wie die Sprache unser Denken bedingt, die Medien unsere Kommunikationen prägen und unsere Welt modellieren. Dass die Form vor dem Inhalt kommt, diese Grunderkenntnis von Medientheorie -- der Inhalt eines Mediums ist immer ein anderes Medium -- deckt sich mit der Alltagserfahrung, dass wichtiger ist, dass etwas gesagt und wie es gesagt wird, nicht was gesagt wird."

Medienrealität -- virtuelle Realität

Gerade im Zusammenhang der viel diskutierten "virtuellen Realität" -- der technisch erzeugten Bilderrealität aus dem Computer -- stoßen sich zahlreiche Medienkritiker daran, dass die Simulation immer stärker voranschreite und die Wirklichkeit immer unwirklicher werde. Dabei vergessen sie aber, dass es dem Menschen letztlich keine Möglichkeit gibt, die Welt an sich wahrzunehmen. Darauf hat eigentlich schon Kant aufmerksam gemacht, demzufolge wir nur gefiltert durch die Kategorien Zeit und Raum die Wirklichkeit sehen. Der Weg zum "Ding an sich" ist dem Menschen versperrt. Die Medien sind eines der Filterwerkzeuge, die Aspekte der Wirklichkeit einzufangen suchen. "Virtuell" ist ihre Funktionsweise dabei aber letztlich schon immer (vgl. auch die Grundlage der >>>Zeichentheorie, demzufolge eine direkte Verbindung zwischen Signifikant und Referent nicht gegeben ist). Die "Medienwirklichkeit" ist daher nicht hintergehbar im Sinne einer authentischeren Wirklichkeit. Sie ist nicht durchleuchtbar hin auf eine "echtere, realere" Welt.

Für die Informationsgesellschaft zeichnet sich die elektronische Konvergenz aller Kommunikationsformen ab, womit eine immersive Medienwirklichkeit erzeugt wird, in der Erscheinungen nicht länger die Reflexion von Erfahrungen auf symbolischer Ebene sind, sondern selbst zu Erfahrungen werden. Dies ist das spezifisch Neue am Zeitalter der neuen Medien, obwohl die erfahrbare und erfahrene Wirklichkeit im strengen Sinn immer eine virtuelle ist, da Menschen sie symbolisch bedingt wahrnehmen. Wenn Kritiker der elektronischen Medien nun klagen …, die neuen symbolischen Welten würden nicht die Wirklichkeit repräsentieren, dann beziehen sie sich implizit auf ein absurd primitives Konzept einer 'wirklichen Wirklichkeit', in der eine uncodierte Wirklichkeitserfahrung möglich sein soll, die als solche aber niemals existiert hat. Alle Wirklichkeit ist symbolisch vermittelt, und wird somit 'virtuell' wahrgenommen. Die verbale (und im weiteren textuelle) Vermittlung ist dabei nur ein Spezialfall allgemein zeichenvermittelter Realität.

Frank Hartmann 2000, 18f.

 
Links

McLuhan: Ideas -- Website von einem Mitglied der Online-Community The Well

Jim Andrews: McLuhan Reconsidered. 1995

Gary Wolf: Channeling McLuhan. Fiktives Interview mit McLuhan im Magazin Wired (Januar 1996)

Frank Hartmann: McLuhan, Magier des Medienzeitalters . Telepolis 21.07.2001

Sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit durch Medien: Strategien und ihre Risiken (Kurze Einblicke in ein Projekt an der Uni Zürich 1997-1999)

Online-Materialien zum Thema Medienrealität im Rahmen der Vorlesung Einführung in die Kommunikationswissenschaft von Prof. Keppler an der TU Dresden

Roberto Simanowski: Eisenbahn, Ozean und Buch. Harold A. Innis' "Kreuzwege der Kommunikation". Rezension in dichtung digital 29.05.2002

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