Stefan Krempl (mit Orlin Spassov)

 

Neueinschätzung des Kanons
Die Evolution der Theorie in den 50er und 60er Jahren

Medienwirkungstheorien werden hinterfragt

Der allmähliche Durchbruch im frühen theoretischen Kanon wird hauptsächlich mit einigen klassischen Forschungen aus den 40er Jahren in Verbindung gebracht. An erster Stelle sei die Arbeit von Katz und Lazarsfeld erwähnt. Sie wurde im Buch "Der persönliche Einfluss" präsentiert und basiert auf Untersuchungen, die im Jahre 1945 durchgeführt wurden (Katz and Lazarsfeld, 1955). Die Idee von opinion leaders wurde in "Der persönliche Einfluss" im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen von 1940 (1) vollends durchgesetzt. In dem Aufsatz fassen die Autoren die Veränderungen folgendermaßen zusammen: "Früher wurde allgemein angenommen, dass sich die Meinungen von der Elite der Gesellschaft bilden und sich später von einem sozialen Status zum nächsten" verbreiten ließen. Die Erforschung der Wahlen von 1940 indizierte jedoch die Präsenz dessen, was später "horizontal vorherrschende Meinung" genannt wurde. … Die Erforschung zeigte zusätzlich noch etwas an, was als two-step flow im Massenmedieneffekt bekannt wurde" (Katz and Lazarsfeld 1955, 3). Auf diese Weise erwies sich die "Wiederentdeckung der kleinen Gruppe" von entscheidender Bedeutung für den Wandel des dominierenden theoretischen Paradigmas in der Erforschung der Massenkommunikationen. Gebildet wurde eine kompliziertere Gestalt des "Soziums". Die einzelne Persönlichkeit wird dabei als ein Teil des Massenkommunikationsnetzes betrachtet.

Two-Step Flow of Information: Meinungsführer (Opinion Leaders) entdecken Themen und Trends zunächst für sich und im zweiten Schritt geben sie ihre Neuheiten an die Masse der Nachfolger (Followers) weiter

Unter den wichtigen Beiträgen von Katz und Lazarsfeld in "Der persönliche Einfluss" ist auch die Orientierung hin zum Alltag zu erwähnen: Das Interesse konzentriert sich auf die Beziehung zur Mode, Kosmetik, dem Kino. Die Autoren kritisieren die traditionelle Ansicht über die atomisierten Massen sowie einige Schlüsselgrundsätze der klassischen europäischen Soziologie des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Idee vom "Zerfall der Bindungen zwischen den Persönlichkeiten in der urbanistischen Industriegesellschaft und der Entstehung neuer Formen der distanzierten unpersönlichen Sozialkontrolle" (Katz and Lazarsfeld 1955, 17 -- Näheres zu den Paradigmen der Wirkungsforschung und der Rolle von Katz und Lazarsfeld für die Theoriebildung im Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die Kommunikationswissenschaft" von der TU Dresden)

Das Streben nach Überwindung der Ansicht über die allmächtigen Medien und die hörigen Massen gipfelt in der Arbeit einer für den Wandel des theoretischen Paradigmas emblematischen Figur -- Joseph Klapper. In seiner klassischen Studie über "Die Effekte der Massenkommunikation" formuliert er Schlussfolgerungen, die für die Bedeutsamkeit des eintretenden Wandels kennzeichnend sind. Klapper ist der Meinung, dass der sich aus den widersprüchlichen Forschungsangaben ableitende Pessimismus überwunden werden könne, da ein systematisierteres und fruchtbareres Wissen von der Wirkung der Medien nun vorhanden sei. Der Grundwandel bestehe in dem "Weglaufen der Tendenz, die Massenkommunikation als eine notwendige und zufriedenstellende Ursache für die Effekte im Auditorium und für den Verweis auf eine Vorstellung von den Medien als einer spezifischen Einwirkung zu betrachten, die sich neben anderen Wirkungen in einer ganzheitlichen Situation entfaltet" (Klapper, 1966, 476). Die Frage besteht in der Aufdeckung der spezifischen Effekte der Massenkommunikation unter der Bedingung, dass die Medien als einer von vielen Faktoren in einem umfassenden Kontext betrachtet werden.

Unter den wichtigen Beiträgen von Klapper ist auch seine Hypothese, dass die Medien indirekt einwirken können, und die Forderung, dass nicht nur ihre kurzfristigen, sondern auch ihre langfristigen Effekte untersucht werden sollten. Die Entfernung vom Begriff "hypodermischer Effekt", der mit dem früheren Zustand der Theorie verbunden war, geschieht in Richtung einer neuen Methodologie, die Klapper als "situativ" oder "funktional" (ebd., 475) bezeichnet. Er lässt die Möglichkeit zu, dass die Medien die bereits vorhandenen Meinungen im Auditorium eher verstärken als sie ändern können, d.h. sie können in Richtung Beibehaltung des bestehenden Status einwirken. Ihm zufolge sollte das nicht unbedingt zur Schlussfolgerung einer "Minimierung der Effekte und der potenziellen Möglichkeiten der Massenkommunikationen" führen (ebd., 79). Der Autor vermerkt, die Ergebnisse seiner eigenen Beobachtungen seien in beträchtlichem Maße auf den Umstand zurückzuführen, dass sie in einer "verhältnismäßig stabilen Gesellschaft" durchgeführt worden sind (ebd., 480). Es sei durchaus möglich, dass unter veränderten Bedingungen auch andere Resultate erwartet werden können.

Trotz der vielen Vorbehalte, die Klapper erhebt, um radikalen Interpretationen der Schlussfolgerungen hinsichtlich der "Effekte der Massenkommunikation" vorzubeugen, gelingt es ihm nicht, seine Untersuchung selbst davon frei zu halten. Seine Arbeit wird oft als ein Beleg dafür gedeutet, dass Medienwirkungen oder ihr Ausbleiben immer schwerer festzustellen sind. Allmählich kommt es zu einem Zustand, in dem bei einem großen Teil von Analysen nicht einmal die Frage nach dem "Effekt" gestellt wird. Nach Tunstall "wird in vielen Untersuchungen eher von Gebrauch, Befriedigung, Funktion und Wechselwirkung als von ´Effekten‘ gesprochen (Tunstall, 1970, 23). Es geht dabei natürlich nicht um den vollen Verzicht auf eine Erforschung von Wirkungen, sondern um die Bindung der Kommunikationsforschungen an mehrere Faktoren.

Wechsel des Blickwinkels

Die Ideen von Katz, Lazarsfeld, Klapper und den übrigen Reformatoren der Medientheorie verwandeln sich rasch in einen weiteren theoretischen Kanon. Es tritt die zweite Phase der Erforschung der Massenkommunikationen ein. Immer mehr Forscher tendierten damals dazu, den Medien kein eigenes Machtpotenzial zuzuschreiben. Großer Popularität erfreuen sich Meinungen wie die von Donald Roberts: "Wir können hinsichtlich der Kommunikationseffekte Schlüsse ziehen, indem wir uns auf das Verhalten des Rezipienten stützen; aber der wahre Effekt von einer Meldung ist mehr oder weniger unklar, hat eine große Reichweite und ist komplizierter, als dies ein sichtbares Maß aufweisen kann" (Roberts, 1992, S. 97). Die Effekte werden nicht mehr mit offensichtlichen Veränderungen verbunden, die unter dem Einfluss der Kommunikationsmittel eingetreten sind.

Der Wechsel des Blickwinkels betrifft nicht nur die Auffassung über die Medienwirkungen; es geht um das gesamte Umdeuten des Prozesses der Massenkommunikation. Die Periode bis 1970 verallgemeinernd schreibt Wilbert Schramm: "Das allmähliche Verlassen der Idee von einem passiven Publikum und deren Wechsel zur Konzeption eines sehr aktiven, stark selektiven Publikums, das eher die Meldung manipuliert, als von ihr manipuliert wird -- es ist ein vollwertiger Partner im Kommunikationsprozess -- stellt den dramatischsten Wandel in der allgemeinen Kommunkationstheorie der letzten 40 Jahre dar" (Schramm, 1992, S. 26). Die Macht der Medien wird umverteilt; sie wird nicht mehr als konzentriert und personifiziert in den Medien- und sozialen Eliten betrachtet. Dieser traditionellen Auffassung, die auf frühe Entwicklungsphasen der Theorie verweist, ist eine neue dynamische Konzeption über das Auditorium entgegengesetzt. So schließt die Hauptströmung in der Theorie der Massenkommunikation eng an die pluralistischen Ideen von der sozialen Organisation an.

Die Erforschung des Effekts, des Auditoriums und des Medieninhalts wird interdisziplinär durchgeführt. Das erschwert zusätzlich die Verallgemeinerungsversuche. Neben der Soziologie sind an der Konstitution des Feldes auch die Sozialpsychologie, die Linguistik, die Mathematik u.a. Disziplinen beteiligt. Selbst die flüchtige Erwähnung und unsystematische Aufzählung der in der Literatur am häufigsten auftretenden Fälle zeugen davon. Der Gebrauch von Begriffen wie "Beachtung", "psychologischen Bedürfnissen", Status", "Referentengruppe", "Wahrnehmung", "Überzeugung", "Meinung", "Organisationsstrukturen", "Rollenerwartungen", "kontrolliertem Experiment", "empirischer Soziologie", "Dissonanz der Erkenntnis", "quantitativen Parametern" usw ist vorherrschend.

Der Problembereich ist ziemlich breit: Er reicht von den biologischen Analogien in der Untersuchung der Kommunikation bei den anderen Lebewesen bis hin zu den spezifischen Effekten der Massenkommunikation. In den Vordergrund treten die Beziehungen zwischen der Kommunikation und den Propagandazielen der Politik, Organisationsaspekte der Media-Institutionen und der internationalen politischen Kommunikation, die Professionalisierung in der Journalistik, die Einwirkung der Medien auf die Kinder, die Wechselwirkungen zwischen diversen Kommunikationsmitteln, die Kontrolle über die Medien. Daneben treten Studien zum Verhältnis "Kommunikation zwischen Persönlichkeiten und Massenkommunikation", zum Verhältnis zwischen Bildung und Medien und v.a. Dabei dominieren die behavioristische Orientierung und der Funktionalismus.
Innis und McLuhan: Medienphilosophie statt Empirie

Trotz der Vielfalt der Forschungsstrategien bleibt die Priorität empirischer Methoden erhalten. Die neuen nuancierten Analysen, die den Veränderungen zu Grunde liegen, bleiben an die Untersuchung des Auditoriums und der individuellen Reaktion oder von Gruppenreaktionen auf die Einwirkung der Medien gebunden. Die Erörterung des "Mangels" an Effekten stellt eigentlich einen Aspekt eines präziseren Problematisierens des Effekts dar, von dem nun mit Kategorien wie Hinauszögerung, Indirektheit, Verborgenheit usw. gesprochen wird. Die Definition des Publikums als eines "vollwertigen Partners im Kommunikationsprozess" kommt der Anerkennung der Möglichkeit gleich, dass die Botschaften der Medien im Rahmen individueller Orientierungen und Bedürfnisse der Empfänger interpretiert werden. Die Aufmerksamkeit auf den Mediendiskurs bleibt aber abseits des dominierenden Interesses oder weiterhin gebunden an die traditionellen Methoden der quantitativen und qualitativen Analyse.

Harold Innis

Die in den 50er und 60er Jahren von Harold Innis und Marshall McLuhan geschaffenen einflussreichen Medientheorien sollten eher als Ausnahmen und Abweichungen vom theoretischen Paradigma betrachtet werden. Das erklärt in großem Maße auch ihr außerordentliches Innovationsvermögen. Die Hauptthesen der beiden kanadischen Forscher folgen nicht einem empirischen Typ von Argumenten, sondern sind auf eine kulturelle und anthropologische Begründung hin orientiert. Bei Innis wurde die Wechselwirkung zwischen der dominierenden Kommunikationsform und dem Organisationstyp der Gesellschaft zum ersten Mal klar formuliert (Innis, 1950; 1951). McLuhan entwickelt seinerseits die Grundidee von der Verbindung zwischen der Evolution der Medientechnologien und den Veränderungen im Bewusstsein des Menschen (McLuhan, 1985, 1994). Seine Texte geben der Entwicklung der Theorie weiteren Ansporn, und McLuhan selbst wird als Vorfahre des Postmodernismus betrachtet.

Das Ende der 60er und der Anfang der 70er Jahre ist eine Periode, in der Bilanz gezogen und die gesamte angehäufte Erfahrung verallgemeinert wird. Das Feld der Erforschung der Massenkommunikationen erhält klare Umrisse. Einzelne thematische Zonen werden mit ihren Autoritäten und ihrer institutionellen Bedeutung abgesondert. Festzustellen ist ein Heranrücken an besser organisierte empirische Untersuchungen und eine besser systematisierte Theorie. Eine Reihe von Autoren veröffentlicht verallgemeinernde Untersuchungen zum Bereich Kommunikation.

Andererseits aber sind auch Bedingungen für den Wandel vorhanden. Die "Sättigungsschwelle" ist erreicht worden. Was noch bevorsteht, ist eine neue intensive Kritik des bewährten theoretischen Diskurses.

Anmerkung:

(1). Die Forschung (Lazarsfeld, Berelson and Goudet, 1954) führt anfangs den Begriff "molecular leaders" ein. Im Vorwort der Ausgabe von "Der persönliche Einfluss" kommentieren später Katz und Lazarsfeld: "Die Ergebnisse dieser Forschung zeigten, dass der Effekt der Massenmedien geringer ist, wenn er mit der Rolle der persönlichen Einflüsse verglichen wird. Die Wähler bilden ihre Meinungen so, dass sie am Ende dem politischen Klima ihrer sozialen Umwelt folgen" (Katz and Lazarsfeld 1955, 3).
 
Literatur

Innis, Harold A. (1950) Empire and Communication, Oxford, Oxford University Press.

Innis, Harold A. (1951) The Bias of Communication, Toronto, Toronto University Press.

Katz, Elihu and Lazarsfeld, Paul F. (1955) Personal Influence. The Part Played by People in the Flow of Mass Communications, New York, Free Press.

Klapper, Joseph (1966) 'The Effects of Mass Communication', in Berelson B. and Janowitz M. (eds.) Reader in Public Opinion and Communicaton, New York, The Free Press.

Lazarsfeld, Berelson and Goudet (1954) The People's Choice, New York, Columbia University Press.

McLuhan, Marshall und Quentin Fiore (1984) Das Medium ist die Massage, Ullstein Verlag.

McLuhan, Marshall (1994) Understanding Media: The Extension of Man, London, Routledge.

Tunstall, Jeremy (1970) 'Introduction'. In Tunstall, J. (ed.) Media Sociology. A Reader, London, Constable .

Robert, Donald (1970) 'Harakter na komunikatzionnite efekti', v Bobchev, R. (sast.) Komunikatziyata, Sofia, Fakultet po zhurnalistika i masovi komunikatzii.

Shram, Wilbur (1992) 'Harakter na komunikatziyata mezhdu horata', v Bobchev, R. (sast.) Komunikatziyata, Sofia, Fakultet po zhurnalistika i masovi komunikatzii.

Modul aus einem Webseminar zu Communications Studies von Rebecca Sullivan zum Thema Media Effects sowie zum Thema Technology und Convergence (Innis/McLuhan etc.)


aktuelle Beiträge zur Medienwirkungsforschung:

Michael Walter: Die Macht der bösen Bilder. Über den Zusammenhang zwischen Gewalt und Medienkonsum gibt es noch wenig gesicherte Erkenntnisse. Dennoch offenbart die Forschung ein gefährliches Wechselspiel. Die Zeit 21/2002

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