Stefan Krempl

 

Fallstudie:
Der Kosovo-Krieg im Internet

Kriege sind immer auch Medienereignisse und werden wiederum von der Medienberichterstattung beeinflußt. "Das Fernsehen hat den Vietnam-Krieg und den Golf-Krieg verändert", meint Ray Thomas von der Aktivistengruppe ®TMark (gesprochen "Artmark"). Das Netz werde einen ähnlichen starken Einfluß auf künftige Kriege ausüben, auch wenn der Wandel noch nicht wirklich abzusehen sei. Der Kosovo-Krieg war nun die erste kriegerische Auseinandersetzung, in der das Internet von beiden Seiten als "Waffe" -- vor allem für Propagandaeinsätze, aber auch im Rahmen eines "Cyberwars" -- eingesetzt wurde und als wichtiges Kommunikationsmittel diente.

Nicht nur das World Wide Web und die News-Angebote der großen Verlage und TV-Sender -- CNN Interactive erreichte am Tag des Kriegsbeginns am 24.3.1999 rund 30 Millionen Pageviews, nur vier Millionen weniger als am 11.9.1998, als der Starr-Report ins Web wanderte -- dienten während des NATO-Angriffs auf Jugoslawien und Kosovo erstmals in einem Kriegsfall als Informationsquelle. Auch das persönlichere Medium Email hatte seine Premiere als Kommunikationsmittel während der Bombenangriffe bzw. schon davor während der Übergriffe serbischer Polizei- und Paramilitäreinheiten auf Kosovo-Albaner.

Es stellt sich aber die Frage, ob das Internet nur die mit allen Mitteln der PR und des Aufmerksamkeitsmanagement geführte Propagandaschlacht, zu denen Kriege spätestens seit dem Debakel der US-Army in Vietnam geworden sind (damals durften Reporter nahezu unzensiert von Einsätzen berichten, was teilweise erschütternde Frontbilder auf die Bildschirme der amerikanischen Fernsehzuschauer zauberte) auf anderer Ebene weiterführte oder ihr "authentischere" Informationen entgegenzusetzen hatte.

Propaganda spielte im WWW während des Kosovo-Kriegs auf jeden Fall eine große Rolle: "In Kriegszeiten mutiert das Internet zum Propaganda-Spiegelkabinett", weiss Wolfgang Stieler in der c't 13/99 zu berichten. Vor allem Regierungswebsites beider Kriegsparteien sowie natürlich die Site der NATO zu Kosovo "tended to feature propaganda and materials that supported their official policies (Denning 2000).

So wurde man auf der NATO-Site während des Kosovo-Kriegs von einem Bild eines Flüchtlingszugs mosaischen Ausmaßes begrüßt, der keinen Zweifel daran aufkommen lassen sollte, warum die "Operation Allied Force" im März 1999 gestartet wurde. Reich an Verschwörungstheorien waren dagegen die Sites des jugoslawischen "Informationsministeriums" bzw. der Regierung, wo eine westliche Medienkampagne gegen Serbien "offengelegt" wurde. Theoretisch "neutralisierte" sich die Propaganda im Internet allerdings schneller als in den meist nur von einer Partei im wesentlichen kontrollierten nationalen Sendern oder Publikationen, da die Wege von einer Site zur anderen per Mausklick nicht weit sind und sich der Surfer auf der Suche nach der Wahrheit die Meinungen zahlreicher Seiten an"hören" kann.

Richard Dinnicks beurteilt der Rolle des Netzes im Kosovo-Konflikt im englischen "Internet Magazine" daher positiv: "One thing that most people can agree on is how difficult it is to attribute blame, to work out who the agressors are and to hear both sides of the story. And that's where the beauty of the Web -- this truly international hinterland -- comes to the fore. Where else would you be able to find the Serbian Ministry of Information a couple of seconds away from the CIA's report on the conflict? It's this diversity of viewpoint and the uncensored nature of the Net that has really made this the first war that has people turning to it for information" (6/99, 39).

Tatsächlich fanden sich während der Luftangriffe im Netz die serbische Sicht der Dinge nur einen Mausklick weit entfernt von den täglichen "Presse-Briefings" der NATO. "Anstatt von wenigen Medienvertretern mit exklusiven Bildern, Berichten und Wahrheiten gefüttert zu werden, können Internet-Benutzer ... sicher ihre eigenen Wahrheiten selbst zusammensuchen. "Do-it-yourself-Journalismus" (Reiner Gärtner in Internet Professionell 6/99, 108). Auch die "offiziellen" Medien waren weitgehend auf den Nachrichtenstrom angewiesen, der über das Internet kam: Nachdem der serbische Staatschef Milosevic bereits beim Ausbruch der NATO-Luftangriffe westliche Journalisten aus Serbien und Kosovo auswies und unabhängige Rundfunkanstalten dichtmachte, waren die Originalbilder und -töne aus dem Netz sehr begehrt: "TV-Bilder aus dem Kosovo sind rar; und wenn vorhanden, dann nur in schwarzweiß mit einem weißen Fadenkreuz, das Sekunden später von einer schwarzen Explosionswolke überdeckt wird -- Bilder aus dem Kampfflugzeug" (Gärtner a.a.O., 109). Als selbst die unabhängige Radiostation B92 von der serbischen Polizei dichtgemacht wurde und ihre Internetserver eingezogen wurden, sah sich die (inzwischen in "International Information Programs" umbenannte) United States Information Agency (USIA) gar genötigt, eine Kosovo-Site aufzubauen, um die letzten noch in Serbien und im Kosovo verbliebenen unabhängigen Medien mit Nachrichten (zumeist allerdings NATO-Material) in serbischer, albanischer und russischer Sprache zu versorgen. Liebling der Onlinemedien war aber vor allem Pater Sava Janjic, ein orthodoxer serbischer Mönch, der aus seinem Kloster im südlichen Kosovo seine "Live-Berichte" ins Web einspeiste.

Die Rolle von Email und Mailinglisten

Als das am meisten genutzte Informations- und Kommunikationsmedium im Kosovo-Krieg erwies sich aber weniger das Web als vielmehr die meistens schnellere und gezielter zu addressierende Email. Sie diente vor allem zur Personalisierung des Kriegsgeschehens: Betroffenenberichte aus Serbien oder dem Kosovo erwecken den Eindruck der Unmittelbarkeit und der Vertrautheit -- selbst wenn die Nachrichten über Umwege in den Mailboxen der Netzbewohner oder letztlich wieder auf Webseiten landen.

In many ways, the Internet is personalizing the war in Yugoslavia for Americans. Accounts from Kosovo circulate on e-mail, chat rooms offer interaction with all sides and online polls invite voting on what to do next. But issues of ethics and taste are arising that underscore the double-edged nature of the Internet's celebrated immediacy and lack of space limitations.

New York Times April 5, 1999

Gleich zu Beginn der NATO-Luftangriffe veröffentlichten etwa mehrere Nachrichtenangebote im Netz wie CNN einen elektronischen Briefwechsel zwischen dem 16jährigen albanischen Mädchen Adona und einem High-School-Studenten im Berkeley. In den "Emails aus dem Kosovo" erkundigt sich Adona nicht nur nach dem Wetter in Kalifornien. Sie erklärt nicht nur, warum sie so gut Englisch kann oder weshalb sie ihren moslemischen Glauben nicht praktiziert. Sie berichtet auch über die nächtlichen Übergriffe der serbischen Polizei und die Ängste der Bevölkerung. Sie schreibt: "Wegen der NATO-Sache, weißt Du, da würde ich mir wünschen, daß sie kommen und uns beschützen. Ich weiß selbst gar nicht mehr, wie viele Leute hier getötet werden."

Als die Bomben auf Serbien und andere Teile Jugoslawiens zwei Monate später fallen, verschafft sich eine neue Betroffenengruppe per Email Gehör. Jetzt sind es vor allem die Nacht für Nacht den NATO-Angriffen ausgesetzten Serben, die "live" von den Orten des Geschehens berichten. Viele schreiben zunächst an ihre Verwandten und Bekannten in Übersee, um ihnen unter Vermeidung hoher internationaler Telefonkosten Lebenszeichen zu setzen. Der direkte Kontakt mit Bekannten schien manchen allerdings nicht auszureichen. Sie fingen an, ihre "Bomben-Tagebücher" und Kriegsberichte in große Mailinglisten wie Nettime zu posten. Die Nachricht von jeder Kirche, jeder Brücke und jedem zivilen Haus, das von den Bomben getroffen wurde, erreichte so die Bezieher zahlreicher Listen.

Doch gleichzeitig wird erste Kritik an den auch von anderen Mailinglistenteilnehmern in täglichen Raten abgesandten "Briefen aus Serbien" laut. Die "Nettimer" sollten endlich einsehen, daß viele der "Augenzeugenberichte" von dem Mitarbeitern des serbischen Informationsministeriums verfaßt würden, meint ein genervtes Listenmitglied. Jedenfalls würden sich die "privaten" Briefe in ihrem Stil und ihrem Inhalt sehr den Propagandanachrichten auf der Webseite der Staatsdiener ähneln. Die Unzufriedenheit mit dem Medium selbst wächst: "Da gibt es den 'Wer sagt die Wahrheit'-Faden, den 'Kommt Zeit, kommt Rat'-Faden, den 'Ich wünschte, ich könnte etwas für diese Leute tun'-Faden und schließlich die Metadiskussion darüber, welcher dieser Stränge -- falls überhaupt einer -- überhaupt passend sind", analysiert der Autor Douglas Rushkoff. Die einzigen, die aus dieser Kakophonie noch Gewinn ziehen können, seien diejenigen, die das Medium zur Konfusionssteigerung nützen wollten.

Die Frage ist allerdings, wer die "Augenzeugen-Berichte" übers Internet verbreitet und wer in Serbien bzw. Kosovo überhaupt Zugang zum Netz hat. Eine direkte Internetblockade gab es in Jugoslawien nicht, auch wenn es in den USA Überlegungen gab, die wenigen wichtigen, größtenteils per Satellit erfolgenden Netzverbindungen in das bombardierte Land zu unterbrechen. Grobe Zahlen zu Netznutzern vermeldete die Washington Post Mitte April (Michael Dobbs: The War on the Airwaves. Washington Post, April 19, 1999). Demnach gab es zu dieser Zeit rund 100.000 Internetanschlüsse in Belgrad (einer 1,5-Millionen-Stadt). Netzzugang boten außerdem eine Reihe von Internet-Cafés. Über Zahlen aus dem Kosovo ist nichts genaues bekannt. Auf der Flucht ist das Email-Schreiben auf dem Laptop und das Versenden via Satelliten-Telefon allerdings auch nicht so einfach.

So beschränken sich die Email-Nachrichten aus dem Kriegsgebiet im April und im Mai vor allem auf die Berichte von Serben über die Bombenabwürfe auf Städte wie Belgrad oder Novi Sad. Denning (2000) kommt zu der Folgerung, dass die täglichen Emails aus Serbien anfangs vielleicht einen "Mitleidseffekt" erweckten, politisch gesehen aber keine große Wirkung hatten: "By all accounts, the situation inside Yugoslavia was horrible for citizens everywhere, whether Serbian or ethnic Albanian. The stories may have inspired activists and influenced public opinion, but it is not clear what if any impact they had on government decision making. In den Zeitungsredaktionen waren die meisten Empfänger sogar "annoyed by this unwanted 'spam,' which the Wall Street Journal dubbed 'Yugospam'".

Ansonsten wurde auf Mailinglisten wie Nettime und in Webforen wie dem "Well" heftig darüber diskutiert, ob in Zusammenhang mit den Vertreibungen von "Genozid" oder "ethnischen Säuberungen" gesprochen werden sollte, ob der Einsatz von Bodentruppen sinnvoll wäre oder ob die "Kriegstreiber" der NATO oder Milosevic die größeren Übeltäter sind. Während anfangs noch oft die Kosovo-Albaner als die unschuldigen Opfer der Serben angesehen werden, kristallisiert sich in den genannten Diskussionsmedien angesichts der anhaltenden Bombardierung bzw. der Bombenabwürfe auf zivile Ziele rasch auch eine Anti-NATO-Haltung auf.

Cyberwar und Hacker War im und übers Netz

Berühmt wurde der Kosovo-Krieg auch als erster "Cyberwar". "Cyberwar bedeutet die Durchführung und Vorbereitung militärischer Operationen nach informationsbezogenen Prinzipien. Er bedeutet die Störung und Zerstörung von Informations- und Kommunikationssystemen und das Wissen eines Gegners über die eigene Lage und Stärke." Folgt man der Definition des Cyberwars, die Bernhardt und Ruhmann vornehmen, könnte man eigentlich den gesamten Luftangriff als Cyberwar bezeichnen, da es der Nato vor allem um die Zerstörung der Infrastrukturen des Gegners bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der eigenen "Informationsüberlegenheit" ging.

Es ist daher sinnvoller, von Cyberwar nur dann zu sprechen, wenn allein mit Hilfe von Computern und Netzen versucht wird, den Gegner zu treffen. Konflikte werden in diesem Fall allein an den Keyboards und vor den Bildschirmen ausgefochten, auch wenn die Folgen dieser virtuellen Kriegsführung natürlich reale Auswirkungen haben können.

Der Cyberwar während der ersten Phase des Kosovo-Krieges war vor allem ein Hacker War. Vom Beginn der Luftangriffe an sollen so die Site der NATO, des Pentagons und anderer US-Militäreinrichtungen sowie die des Weißen Hauses Ziels von Hackerattacken gewesen sein. Schlagzeilen machten immer wieder Meldungen, wonach die aufgezählten Sites hin und wieder "down" waren und kurzfristig lahmgelegt wurden. Russen, Serben und Chinesen sollen die Attacken vor allem ausgeführt haben. Insgesamt waren diese "nascent moves in an 'information war'" allerdings für das Internet Magazine nichts weiter als "kleine Ärgernisse." (a.a.O., 41).

Große Aufmerksamkeit zog ein Newsweek-Bericht Ende Mai auf sich, demzufolge Clinton den CIA beauftragt habe, einen Cyberwar gegen Milosevic zu starten: "Government Hackers" sollten sich in die Rechner ausländischer Banken einloggen und dort "an Milosevics Konten herumspielen." Nachdem Newsweek diese Form der zukünftigen Kriegsführung bekannt gemacht hatte, wurde die Sache allerdings schnell abgeblasen.

Die tatsächliche Rolle, die das Internet im Kosovo-Krieg gespielt hat, bedarf noch gründlicher Analysen. Klar ist, daß sich über das Netz Informationen aus Kriegsgebieten schneller beziehen bzw. hinausbefördern lassen, die zum Teil auch die Zensur anderer Medien umgehen können (solange die Netzverbindung steht). Die Informationsvielfalt ist außerdem weitaus größer als in den normalen Medien, da die dort herrschenden Selektionskriterien (Zeit, Platz, Geld etc.) wegfallen. "Das in anderen Kriegen wie zum Beispiel im Golfkrieg aufgebaute Feindbild, "Böse gegen Gut", wird durch das Internet ziemlich entwertet (Gärtner a.a.O., 110). Ein mit der Informationsvielfalt verbundenes Problem ist allerdings die Glaubwürdigkeit der Informationen (Nachrichten werden anonym oder über Massenaccounts versendet) sowie der Information Overflow.

 
Literatur

Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann: Krieg und Frieden im Internet. Telepolis vom 2.9.98

Kosova Krisis Center von Alb-net.com

Kosovo.net -- Sicht aus Serbien

The Art of War. "Kunst und Krieg" auf der Site der Federation of American Scientists (FAS)

Florian Rötzer: Serbien im Medienkrieg. Wie die serbische Regierung im Internet die internationale Verschwörung der Medien zu brandmarken sucht. Telepolis vom 13.10.1998

Andres Wysling: Kosovo -- die Schlacht auf dem Bildschirm. Blutige Realität und virtuelle Internet-Propaganda. Neue Zürcher Zeitung vom 6.11.1998

Florian Rötzer: Das serbische Informationsministerium. Telepolis vom 23.3.1999

Florian Rötzer: Die Stärke des Internet. Im Krieg mit Jugoslawien scheint das Internet zum primären Medium zu werden. Telepolis vom 27.03.1999

Harald Taglinger: Wieviel Krieg gibt es ohne Medien? Telepolis vom 3.5.1999

Leander Kahney and James Glave: Citizens Report from the Front. Wired News vom 26.3.1999

Leander Kahney and James Glave: Net Dispatches from Kosovo's War. Wired News vom 26.3.1999

Leander Kahney: Yugoslav Net at the Brink. Wired News vom 26.3.1999

Leander Kahney: Email Assist for Yugoslavs. Wired News vom 26.3.1999

Declan Mc Cullagh: Do-it-Yourself News. Wired News vom 26.3.1999

Reuters: Closing the Window on the War. Wired News vom 29.3.1999

Paul Treanor: Kill! Kill! Kill! In Newsgroups gärt die Kriegswut. Telepolis vom 3.4.1999

Leander Kahney: Yugoslavia's B92 Goes Dark. Wired News vom 2.4.1999

Stefan Krempl: Es reicht! Das Netz sieht schwarz. Der Kosovo-Krieg im Internet. In: Spiegel Online vom 28.4.1999 (Langfassung)

Florian Rötzer: Chinesen protestieren auch im Internet. Telepolis vom 10.5.1999

Michael Stroud: One Man's Belgrade Diary. Wired News vom 12.5.1999 über A.G.s War Diaries

William M. Arkin: A Mouse That Roars? Keyboard contra Bomben. Washington Post vom 7.6.1999

Felicity Barringer: Narrowing the Electronic News Gulf. New York Times vom 7.6.1999

Ralf Bendrath: Der Kosovo-Krieg im Cyberspace. Telepolis vom 19.7.1999

Elvi Claßen: Medienrealität im Kosovo-Krieg. Telepolis vom 30.10.1999

Dorothy E. Denning: Activism, Hacktivism, and Cyberterrorism. The Internet as a Tool for Influencing Foreign Policy. Beitrag zum Information Technology and American Foreign Policy Decisionmaking Workshop, 10.12.1999 in San Francisco

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