Stefan Krempl

 

Schrift und Verschriftlichung

Die Schrift gilt als eines der wichtigsten "Speichermedien", die zusammen mit der Sprache das abendländische, "rationale" Denken entscheidend geprägt und den Blick als den wichtigsten Sinn des Menschen betont hat. Wichtig ist dabei, Sprache und Schrift immer zusammen zu denken. Beide machen die Zeichenvermitteltheit der Wirklichkeit durch Medien besonders deutlich.

Die Leistung von Sprache allgemein ist ja, dem Menschen zu ermöglichen, sich vom Hier und Jetzt der Situation bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen; man kann über Vergangenes und Zukünftiges sprechen. … Man kann über das sprechen, was an einem anderen Ort geschieht, und sei dieser Ort auch ein möglicher oder gar fiktiver. Diese Grundleistung menschlicher Sprache wird in der Schrift perfektoniert. Sie ist in dieser Hinsicht eine 'vollkommenere' Sprache. Die Vollkommenheit wird erkauft durch den Verlust der Situationsbindung.

Brigitte Schlieben-Lange (1993): Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der französischen Revolution. In: Assmann, Aleida/Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.) (1993): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation. München.

Vor allem Walter Ong hat aber auch die natürlich bestehenden Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation herausgearbeitet. War es in oralen Gesellschaften selbstverständlich, dass der Erzähler mit dem Publikum interagierte und jederzeit auf dessen Bedürfnisse eingehen und auf die Reaktionen der Zuhörer seinerseits wiederum reagieren konnte, so ändert sich diese Unmittelbarkeit mit dem Aufkommen der Schrift. Der schriftliche Text tritt seinen Leser als fester Block entgegen, relativ immun gegen Veränderungen. "Seine Materialität und sein Dingcharakter schotten ihn ab und lasen ihn als einen 'Fremdling' im Kontext erscheinen. Daß sein Autor fast grundsätzlich abwesend ist und ebensogut tot sein kann, ist ein entscheidender Faktor der Kontextentbindung, ebenso wie die Zeitversetzung zwischen Lesen und Schreiben. … Die Schrift also erzwingt eine 'Abrundung' auch auf der Ebene der Inhalte, und das Medium schlägt auf den Text zurück" (Winklers Ong-Rezeption, 234f).

Die Schrift wurde vor Derrida häufig und gerne als ein der Sprache nachgeordnetes Mediensystem angesehen (nicht nur in der historischen Abfolge). Stellvertretend für diese schon früh verbreitete und für die gesamte spätere Medienkritik typischen Ablehnung eines "neuen" Mediums stehen die Warnungen vor der Schrift durch >>> Platon. Doch diese Auffassung ist inzwischen häufig hinterfragt worden. In aller Differenz, bei allen Unterschieden, gibt es eben doch auch viele einheitliche Züge zwischen Sprache und Schrift.

Es ist … nicht so, daß die Schrift aus einer Objektivierung der Sprache entsteht; sondern sie entsteht als eine ursprünglich materialisierte Kommunikation; als eine "andere" Sprache oder: sie stellt eine andere Wurzel von dem ungeheuer vielgestaltigen Gebilde dar, das wir unsere Sprache nennen.

Konitzer, Werner (2001): Andauernde und gedehnte Äußerungen. Öffentlichkeit und Philosophie unter den Bedingungen von Schriftlichkeit und analoger Medialität. Habilitationsschrift Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, 62

Die Schrift und die Folgen

Wenn wir heute von "der Schrift" sprechen, meinen wir in der Regel eine alphabetische Zeichenabfolge, wie sie vor allem die "alten" Griechen bekannt gemacht haben. Daneben gab es zwar schon andere Schrifttypen wie die Keilschrift der Ägypter oder als direkten Vorläufer des griechischen Alphabets die phönizische Schrift. Doch der allgemeinen Auffassung der Medienforscher zufolge war es vor allem die griechische Fassung der Schrift, die das gesamte abendländische Denken entscheidend geprägt hat.

Ein entscheidender Schritt der Griechen ist es, Vokale zwischen die bei den Phöniziern noch nur aus Konsonanten bestehenden Silbenschrift einzufügen. Dadurch wird die Schrift einfacher lesbar, da die Vokale die Konsonanten mehr oder weniger isolieren und die verwendeten Spracheinheiten in ein visuell besser auffassbares System eingliedern. So "konnte sich der Leser auf eine eindeutige und lineare Aufeinanderfolge der Zeichen beim Dechiffrieren eines Textes stützen" (Kerckhove 1995, 11). Der Leser muss seitdem im Abendland also weniger die einzigartige Gestalt der Buchstaben wiedererkennen, sondern eine Abfolge (eine syntagmatische Reihung) von Vokalen und Konsonanten als einzelne Sinnwurzeln.

Diese Ausrichtung auf das Erkennen von Sequenzen hat laut Kerckhove mannigfaltige Folgen. Beansprucht wird beim Dekodieren von Abfolgen genetisch bedingt vor allem die rechte Gehirnhälfte, die weniger den Blick auf das Ganze, sondern vielmehr auf die Analyse und das exakte Maß lenkt. Die Schrift -- so Kerckhoves These -- trägt folglich dazu bei, den "abendländischen mentalen Raum" zu formen. Der wiederum "passt sich an eine Umwelt an, die diesen Raum gleichermaßen wiederspiegelt und interpretiert" (a.a.O., 25). Daraus erwächst die Fähigkeit, die Realität quasi zu verdoppeln, eine Landschaft beispielsweise nicht nur zu betrachten, sondern sie auch in Gedanken zu reproduzieren. Insgesamt werden so kognitive Fähigkeiten erzeugt, die auf das Zusammenfügen und Kombinieren einzelner gedanklicher Bausteine trainiert sind; diese kognitiven Fähigkeiten bevorzugen logische Verbindungen sowie Beziehungen von Ursache und Wirkung auf Kosten von Analogieschlüssen. Die Abstraktion von den Objekten der Welt, die bereits die Sprache eingeleitet hat, wird so konsequent von der Schrift fortgesetzt. Als mittelfristige Effekte dieser Entwicklung nennt Kerckhove

  • die Herausbildung des individuellen Subjekts als einem eigenständigen, von der Umwelt getrennten Teil und
  • das allmähliche Aufkommen der Perspektive im Zuge der fortschreitenden Alphabetisierung; die psychologische Verinnerlichung der Schrift in der Form des Denkens.
  • Diese Bedingungen erlauben es dem Individuum, in Zukunft die Macht über die Sprache und damit über sein eigenes Schicksal zu begreifen (a.a.O. 30).

Ein Mensch, der Griechisch, Lateinisch oder Kyrillisch lesen und schreiben kann, gleicht einem Organismus, der die Wirklichkeit in Stücke zerlegt, um sie in seinem Gehirn ordentlich geordnet zu lagern.

Kerckhove 1995, 67

Noch einige philosophische Überlegungen zum Verhältnis Sprache -- Schrift

Konitzer (a.a.O.) unterscheidet vier Aspekte des Verhältnisses von Sprache und Schrift, die in der Schrifttheorie oft miteinander verwechselt werden (nur für Hartgesottene und zum vertieften Nachdenken!):

    Erstens. Schrift ist andauernde sprachliche Äußerung. Das heißt nicht, daß Schrift gesprochene Sprache abbildet oder darstellt oder gar von der Funktion der Darstellung gesprochener Sprache her zu verstehen ist. Vielmehr heißt es, daß geschriebene und gesprochene Sprache in einem wesentlichen Punkte gleichen, nämlich dem, daß sie beide propositionale Struktur aufweisen. Freilich kann man den Ausdruck Schrift weiter definieren – dann umfaßt er auch Notationssysteme wie etwa das Namensystem oder das griechische Notensystem oder unsere musikalische Notation. Ich will den Ausdruck hier aber so eng fassen, daß Schrift insofern sprachlich ist, als in ihr Behauptungen aufgestellt und zurückgewiesen, Verneinungen ausgesprochen werden. Durch dieses Kriterium läßt sich also geschriebene Sprache sowohl von ihren Vorformen als auch von anderen Systemen von Merkzeichen unterscheiden.

    Zweitens. Geschriebensprachliche Systeme können mit gesprochener Sprache so kombiniert werden, daß sie als Notationssysteme gesprochener Sprache fungieren können. Schrift kann gelesen, Gesprochenes kann aufgeschrieben werden. Diese Eigenschaft kommt Schriften nicht notwendig zu, auch ist nicht umgekehrt alles, was ein Notationssystem ist, ein Schriftsystem. Schließlich weisen aber Notationssysteme und Schriftsysteme (Schrift nun als andauernde propositionale Äußerung verstanden) eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen auf.

    Drittens. Daraus ergibt sich, daß viele Schriften faktisch notationale Eigenschaften haben. Diese Eigenschaften sind wiederum verschieden, je nachdem, um welche Form von Schrift es sich handelt. Wenn wir also die notationalen Eigenschaften als Formen wechselseitiger Abbildbarkeit bezeichnen, so gibt es hier noch einmal verschiedene Formen der Abbildung. Es kommt also nicht von ungefähr, daß Goodman beide Funktionen in einem einzigen Zugriff zu erfassen versucht und birgt allerdings auch eine Reihe von Gefahren in sich.

    Viertens. Schließlich kann geschriebene Sprache dazu dienen, Sprechereignisse darzustellen und zu dokumentieren. Diese Form des Bezuges hängt mit dem zweiten und dritten Gesichtspunkt zusammen, ist aber nicht mit ihm identisch. Der Text, den ich gerade aufschreibe, muß von mir nicht vorher leise gedacht oder laut gesprochen worden sein, auch, wenn ich eine alphabetische Schrift benutze. Aber in diesem Text können z.B. Passagen einfließen, in denen ich wörtliche Rede darstelle. Auch hier sprechen wir davon, daß geschriebene Sprache Gesprochenes darstellt. Nur gehört hier der Bezug auf das Redeereignis, das dargestellt wird, zum Ausgesagten und Mitgeteilten. (Konitzer a.a.O., 70f).

Die Schrift verlangt bestimmte intellektuelle Fähigkeiten, die auch Genuß bereiten. Es gab vor einigen Jahren die These von Umberto Eco, der der Meinung war, wir bewegten uns auf eine neue Zweiteilung der Kulturen hin: eine Lesekultur und eine Bilderkultur. Wobei die Leser natürlich die Intelligenteren wären. Ich glaube aber nicht, daß das zutrifft. Man darf die Rolle der Schrift und des Lesens nicht überbewerten. Sie ist, grob gesagt, das Erbteil des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber ganz verschwinden wird sie nicht.

Wilhelm Voßkamp, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Köln

 
Links

Digitale Keilschrift-Bibliothek von der University of California Los Angeles

Schautafel: Varianten des griechischen Alphabets und ihre Beziehung zur phönizischen Schrift

Erich A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte (Exzerpt von Michael Giesecke)

Schrift und Sozialstruktur (Goody -- Exzerpt von Michael Giesecke)

Der Aufschwung des Schriftmediums und die Zurückdrängung von Tanz und Taktilität in Altägypten (Exzerpte von Michael Giesecke)

Alphabet und Buchdruck -- die Entstehung des visuellen Raums (aus dem Seminar Visuelle Kommunikation)

Sehen und Sein. Die Konstituierung des Selbst in der Neuzeit (aus dem Seminar Visuelle Kommunikation)

Hans-Arthur Marsiske: Man darf die Rolle der Schrift nicht überbewerten. Ein Gespräch mit Wilhelm Voßkamp über Geschichte und Utopie der Medien. Telepolis 18.06.1999

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