Stefan Krempl
 

Sterben Medien? Die Verdrängungsdebatte

Viele Medientheoretiker gehen von der These aus, dass die neuen Medien einfach zu den bestehenden hinzutreten, sich die Medienvielfalt nur verbreitert. Die Mediengeschichte wird so als ein Prozess einer aufeinanderfolgenden Aufhäufung einzelner Medien betrachtet. Dazu ein paar Stellen aus der Literatur:

Neue Medien haben alte noch nie verdrängt. Ja, es spricht einiges dafür, daß alte Medien um so überlebenslustiger sind, je älter sie sind. Schellackplatten und LPs verschwinden mit der CD, um auf Flohmärkten und irgendwann zu hohen Preisen in Antiquariaten wiederaufzutauchen. … Auch nach der Erfindung der Photographie gibt es Porträtmaler, auch nach Erfindung des Films bleiben die Theater geöffnet, auch nach Erfindung der Schallplatte finden Konzerte statt -- so wie die Erfindung des Autos den Pferden nicht den Garaus gemacht hat. (Hörisch 1998, 31f)

Trotz der … sicherlich bestehenden Konkurrenz zwischen Medien wie dem Film oder dem Fernsehen und interaktiven Spielen ist meines Wissens aber noch nie ein einmal entwickeltes Medium, das gesellschaftlich akzeptiert wurde, gänzlich ausgestorben. Es finden Spezialisierungen und Ausdifferenzierungen sowie Verbindungen mit neuen Techniken statt. Schlimmstenfalls existiert ein überholtes und einst gesellschaftsmächtiges Medium wie die Malerei oder bald auch die Fotografie als Medium in der Nische der Kunst weiter.

Rötzer, Florian (1996): Interaktion -- das Ende der herkömmlichen Massenmedien. In: Maresch, Rudolf (Hg.) (1996): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. München (Boer), 119-134, hier: 121.

Eine aus dem Altertum abgeleitete Einsicht des Altphilologen und Journalisten Wolfgang Riepl, demnach "neben den höchstentwickelten Mitteln, Methoden und Formen des Nachrichtenverkehrs in den Kulturstaaten auch die einfachsten Urformen bei verschiedenen Naturvölkern noch heute im Gebrauch sind" (Riepl 1911, 4), hat inzwischen auch Karriere gemacht und spukt in Form des die Unsterblichkeit von Medien deklamierenden "Rieplschen Gesetz" durch die Diskurse. Mehr als den Status allgemeiner Eindrücke wollen dem "Gesetz" allerdings nur wenige Wissenschaftler zugestehen. Dass die Beobachtung Riepls trotzdem Karriere gemacht hat, könnte an der beruhigenden Wirkung liegen, die sie auf die Medienpraxis und auf die Macher bereits halb tot gesagter Medien wie der Zeitung ausübt (vgl. Schäfers 1998, 97).

Tote Medien

Die weitverbreitete These, dass "bislang noch kein Medium von einem anderen überflüssig oder verdrängt worden wäre", hält Faulstich allerdings für einen klaren "Irrtum" (2000, 31). Er "hängt eng mit der Annahme einer 'Medienevolution‘ zusammen, nach der Medien quantitativ allmählich zunehmen und qualitativ für den gesellschaftlichen Wandel immer wichtiger werden. … Ein solches Konzept von Mediengeschichte verfälscht, weil es erst mit Printmedien wie Buch und Zeitung oder gar erst mit elektronischen Medien wie Film und Radio einsetzt, so als hätte es davor keine Kommunikation über große Entfernungen gegeben, keine Verbreitung und Verarbeitung von Nachrichten, keine Speicherung und Tradierung von Wissen, keine Unterhaltung, keine Propaganda, Werbung usw., als wären Medien eine Erfindung der Neuzeit."

Als Beispiele für "ausgestorbene Medien" führt Faulstich u.a. Schamanen, Zauberer, Medizinmänner und Seher bzw. auch die attischen Sophisten und forensischen Rhetoriker an. Auch die Rolle, "das klassische Kommunikations- und Bildungsmedium der Antike" hat in eigenständiger Form nicht überlebt, auch wenn ihr über den Kodex eine Brückenfunktion zum Buch hin zukommt (vgl. a.a.O., 32f).

Der Sciencefiction-Autor Bruce Sterling hat sich ganz in diesem Sinne auf die Suche nach den toten Medien der Geschichte gemacht und den Anstoß zur Gründung des "Dead Media Project" mit einem umfangreichen Archiv toter Medien gegeben. Das Ergebnis war schlicht "schockierend", so Sterling kürzlich bei einem Vortrag in Berlin. Zwar habe noch niemand das Buch geschrieben, das eigentlich aus dem Projekt entstehen sollte. Doch die inzwischen von Tom Jennings betriebene Website ist ausgedruckt "über 12 Seiten lang" und voll von verwesenden oder bereits vollständig vergessenen Medien. "Da sind fantastische Sachen darunter, wie das Diarama aus Europa, aber auch babylonische tote Medien", freut sich der Texaner. Selbst die chinesische Mauer sei auf der Liste gelandet, auch wenn heute keiner mehr wisse, dass es sich dabei einst um ein Mittel zur Kommunikation gehandelt habe.

Aber auch von den digitalen Medien seien bereits eine stattliche Anzahl in dem virtuellen Museum der gestorbenen Verständigungsmittel zu bewundern. "Wir befinden uns gerade erst im Goldenen Zeitalter der toten Medien", prophezeit Sterling. "Wir töten sie schneller als je zuvor, unsere Gesellschaft ist ein richtiges Medien-Schlachthaus".

Auch bei Hörisch findet sich eine Einschränkung bei der These der "Nicht-Verdrängung": "Aber: auch wenn Neues nicht das Alte vernichtet, so sorgt es doch dafür, daß das Alte gänzlich neue Funktionen übernimmt. … Die Funktion der Printmedien unterliegt einer Ausdifferenzierung. Für die schnelle Information sind Radio- und TV-Meldungen zuständig. Für die Abstand nehmende und auch zeitlich verschobene Aufarbeitung der Information bleiben die Printmedien zuständig. … Immerhin schwant wohl am ehesten der Medienwissenschaft, daß die Welt auch dadurch zusammengehalten werden kann, daß sie auseinanderdriftet. Differenz ist einheitsträchtiger als Identität" (a.a.O. 32).

Winkler findet generell die These der "Substitution", der Ablösung und Verdrängung verschiedener Medien im Rahmen historischer Umbrüche zumindest "das deutlich interessantere Konzept" gegenüber der These der "Aufhäufung" von Medien und argumentiert mit der "Aufmerksamkeitsökonomie" (1997, 189):

Mediengeschichte wird erst dann zu einem dramatischen Vorgang, wenn klar wird, daß Neuentwicklungen die bestehenden Konstellationen tatsächlich beschädigen; erst die Einsicht, daß die beschränkte Lebenszeit auch die mögliche Fläche für den Medienkonsum begrenzt, macht die Tatsache zugänglich, daß die Medien um Lebenszeit, Aufmerksamkeit und welterschließende Funktion konkurrieren; daß auch bei der Erweiterung auf 500 Fernsehkanäle das Rezeptionsvolumen nicht wesentlich zunehmen wird. … Erst solche Überlegungen machen klar, daß es bei der Konkurrenz der Medien tatsächlich um etwas geht.

 
Literatur / Links

Schäfers, Anja (1998): Im Mittelpunkt der Mensch: Neue Medien und historischer Vergleich. In: Nevarla, Irene (Hg.) (1998): Das Netzmedium. Kommunikationswissenschaftliche Aspekte eines Mediums in Entwicklung. Opladen (Westdeutscher Verlag), 89-110

    Riepl, Wolfgang (1911): Beiträge zur Geschichte des Nachrichtenwesens bei den Römern. Leipzig (Phil. Diss. Erlangen).

    Lutz M. Hagen: Riepls Gesetz im Online-Zeitalter. Eine Sekundärnanalyse über die Grenzen der Substitution von Massenmedien durch das Internet (PDF-Datei)

    Eric Scigliano: Ten Technologies That Refuse to Die. Technology Review 2/2004

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