Von Success- zu Failure-Stories (Von Stefan Krempl)

Boo.com machte es vor: Innerhalb weniger Monate wollten die schwedischen Gründer, Kajsa Leander, Ernst Malmsten und der vorzeitig ausgestiegene Patrik Hedelin, schicke Modeartikeln mit Unterstützung der virtuellen Miss Boo in 18 Ländern rund um die Welt verkaufen. Doch die Megapläne gingen nicht auf: Nach anderthalb Jahren waren die über 120 Millionen Risikokapital aufgebraucht -- nicht zuletzt wegen des legendären Führungsstils der nach London umgezogenen Gründer: Champagner -- Concorde -- Kaviar. "Dem kollektiven Größenwahn folgt der gemeinsame Absturz", beschreibt die Wirtschaftswoche (51/2000, 86) das Auf- und Ab der Durchstarter der New Economy. Tatsächlich haben sich viel zu viele Gründer von den Börsenfantasien der Investoren und Anleger zunächst blenden lassen, riesige Marketingkampagnen aufgelegt und die Expansion um jeden Preis vorangetrieben. Doch als der Rückenwind von der Börse sich in Gegenwind umkehrte, platzte die Blase.

Die Stimmung auf der Weihnachtsparty des Silicon City Clubs, einem der wichtigsten Network-Zirkel deutscher Startups, war daher stellvertretend für das gesamte Empfinden der Branche: Obwohl sich die Szene einen der hippesten Clubs in Berlin ausgesucht hatte und der DJ die Scheiben wie ein Weltmeister auflegte, hatten viele der Geladenen den Blues im Blut. Ein Sündenbock musste also her: Der "Bremsklotz des Jahres" war auch schnell gefunden: Diese Auszeichnung, waren sich 39 Prozent der an der Abstimmung beteiligten Startup-Mitarbeiter sicher, gebührt keinem anderen als Daniel David. Hatte der ehemalige Schlagersänger Mitte September doch mit dem von ihm gegründeten Telekommunikationsunternehmen Gigabell (www.gigabell.de) die erste Pleite am Neuen Markt produziert, statt wie versprochen den deutschen Surfern eine kostenlose Flat-Rate zu bieten.

Durch "hemmungslose Selbstüberschätzung" und "Schönfärberei" habe David die Gigabell AG in den Abgrund geführt und damit "der gesamten Internet-Wirtschaft einen schweren Image-Schaden zugefügt", werfen die Jungunternehmer dem mittlerweile von seinem Vorstandsposten zurückgetretenen Bruchpiloten vor. Rudolf Zawrel, wie David mit bürgerlichem Namen heißt, habe "den ersten großen Sündenfall der New Economy am Neuen Markt inszeniert".

Tatsächlich startete Gigabell am 11. August 1999 überaus theatralisch in das Abenteuer Wirtschaft, das zum Lehrstück für zahlreiche Anleger und Gründer wurde: "Wenn wir an die Börse gehen, geht die Sonne zweimal auf", lautete das Debütmotto am Tag der Sonnenfinsternis. Als Allround-Dienstleister mit "exzellenten Wachstumschancen" von den Emissionsbanken angepriesen, wurden die Papiere des frühreifen Providers von den Investoren gut angenommen. Schon nach zwei Wochen muss David zwar die erste Gewinnwarnung aussprechen, doch noch ist die Fantasie der Anleger größer als die Aussagekraft der harten Zahlen.

Es folgt eine Zeit der großen Ankündigungen und der kleinen Taten. Einen bei Gigabell beschäftigten Software-Entwickler erinnert das Gebaren des Vorstands im Nachhinein an "kleine Kinder, die alle paar Monate ein neues Spielzeug entdecken." Projekte werden von heute auf morgen mit höchster Priorität vorangetrieben ­ und genauso schnell wieder abgeblasen. Einem vom Aufsichtsrat ausfindig gemachten Käufer weist David im Mai 2000 die Tür und übernimmt stattdessen im Juni noch den britischen Provider Net.Net. Doch damit hat der Größenwahn ein Ende, die Liquiditätsprobleme Gigabells sind nicht mehr zu überspielen. Die Firma landet ganz oben auf den "Todeslisten", die von Juli an in zahlreichen Newslettern und Magazinen auch in Deutschland kursieren. Als eine Geldspritze eines britischen Investors wegen ungültiger Vertragsklauseln abbricht, muss David tatsächlich dem über die praktisch nicht vorhandene Buchführung verzweifelnden Konkursverwalter das Feld überlassen. Gigabell wird zur wandelnden Leiche, deren Überreste nur noch für Firmen attraktiv sind, die sich das teure Zulassungsverfahren am Neuen Markt sparen wollen.

Krisenfälle wie der von Gigabell oder der Augsburger Infomatec AG weckten bei Investoren nicht gerade Vertrauen in die New Economy zwischen München und Hamburg. Auch wenn das große Startup-Sterben hierzulande anders als in den USA, wo die Pleitewelle gerade unter reinen Internet-Firmen viel stärker wütete, bisher ausblieb, so musste doch das ein oder andere Dotcom im Herbst die Segel streichen. In weiteren Verruf brachten die Gründerszene beispielsweise die bulligen Macher des Hamburger Cyberradios, Olaf Kriewald und Stefan Lechner. Als die erhofften Werbeeinnahmen nicht im geplanten Ausmaß flossen und die beiden Firmenchefs ihre 80 Mitarbeiter nicht mehr bezahlen konnten, faselten sie etwas von einer neuen Geldquelle auf einer karibischen Insel. Doch die bisherigen Investoren fühlten sich geprellt, zumal die beiden Cyberradio-Virtuosen sogar versuchten, ihre Firma noch rasch über Ebay zu versteigern (vgl. Wirtschaftswoche, a.a.O.)

Ganz blieben Pleiten in Deutschland aber nicht aus: Groß war die Enttäuschung etwa bei Gaudia.com. Mitte Oktober musste der Online-Ticketvertrieb beim Hamburger Amtsgericht einen Insolvenzantrag stellen. Der ehemalige Geschäftsführer des Startups, Christoph Zeinecker, sieht die Gründe für das Scheitern vor allem im Wankelmut der Investoren, die selbst vor kurzem noch "als besonders erfolgsversprechend gehandelte Businesskonzepte" von heute auf morgen fallen ließen. Außerdem sei die Firma in der Old Economy auf Granit gestoßen: Einerseits habe sie dort zwar für ihre "iTicketing"-Software und ihre Serviceleistungen viel Lob erhalten. Andererseits sei es aber mit den "Größen der Ticketindustrie nie zu einem Abschluss der Verhandlungen" gekommen. Die von Gaudia.com gewonnenen 200 Kunden aus dem klein- bis mittelgroßen Veranstaltungsbereich hätten nicht ausgereicht, um den profitablen Betrieb der technischen Plattform zu ermöglichen.

Eine Art Mißverständnis der launischen Investoren brach auch Dock11.com das Genick. Die Hamburger Gründer des Startups, die zum Teil jahrelang Erfahrungen in der Musikindustrie gesammelt hatten, waren angetreten, um den großen Labels eine Plattform für die Marktforschung zur Verfügung zu stellen. Als Trüffelschwein für die Branche wollten sie agieren. Doch der Dienstleister wurde von den Wagniskapitalgebern kurzerhand mit kriselnden Musik-Verkäufern wie dem skandinavischen CD-Laden Boxman in eine Tüte gesteckt, bekam kein Geld mehr und musste im Oktober das Liquidationsverfahren bekannt geben. "Es war, als hätten sich alle Kapitalgeber abgesprochen", klagt Gründer Frank Goldberg über das seiner Firma zuteil gewordene Los. "Flaut ein Trend ab, verlassen die Kapitalisten wie die Lemminge das sinkende Schiff", kritisiert auch Niko Waesche, Vice President der GRP Venture Capital in München, die eigene Branche.

Zusammen mit den schlechten Vorgaben von der Nasdaq führten die Pleite- und Skandalgeschichten bei Geldgebern und -anlegern zu fast schon panischen Reaktionen. Als just Intershop, Deutschlands wichtigstes Vorzeigeunternehmen der New Economy, gleich am 2. Januar 2001 eine Gewinnwarnung für das vierte Quartal ankündigte und von Umsatzeinbußen in Höhe von 10 Millionen Euro sprach, zog der sinkende Aktienkurs der Firma gleich den gesamten Neuen Markt auf einen neuen Tiefstand.

Auch die Strategie der Expansion um jeden Preis, die sich zahlreiche Startup-Manager wie bei Webmiles, Dooyoo, Ciao.com, Vitago oder Teamwork während des Booms verordnet hatten, war nicht lange durchzuhalten. Alle Märkte auf einen Schlag besetzen, eventuellen Konkurrenten mit einer groß angelegten "Bin-schon-da"-Attitüde begegnen, lautete das von Magazinen und Beratern der New Economy vorgegebene Mantra. Vom Größenwahn befallen gründeten zahlreiche deutsche Firmen daher bis weit in den Frühsommer hinein munter Büros in Skandinavien, London, Paris oder Mailand ­ und verausgabten sich gründlich. Die Strategie, innerhalb weniger Monate die halbe Welt zu erobern, entpuppte sich in mageren Zeiten rasch als verhängnisvoll.

"Noch niemand hat einen Vierfrontenkrieg gewonnen", wundert sich Bernd Hardes vom Investmenthaus Econa über den Überambitionismus der Branche. Früher hätten Firmen 50 Jahre gebraucht, um sich international auszubreiten. Den Anspruch, vergleichbare Leistungen in 50 Tagen zu vollbringen, verweist Hardes in den Bereich der Mythen aus dem Cyberspace.

Inzwischen haben viele Startups ihre Strategien grundlegend geändert: Profitabilität und Sparen stehen auf dem Programm, Geschäftsmodelle wurden von B2C auf B2B getrimmt. Angesagt sind Partnerschaften mit der Old Economy, um nicht nur auf das Startkapital von Venture Capitalisten angewiesen zu sein.

Der Ausblick ist daher gedämpft positiv. Bernhard Rohleder etwa, Chef des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), forderte die Investoren und die Medien jüngst auf, "zwischen den Verwerfungen an der Börse und der Lage der Branche" zu unterscheiden. Die Statistik ist auf Rohleders Seite: Seit 1992, weiß der Lobbyist, hat es 200 000 Firmengründungen in der Informationstechnologie in Deutschland gegeben, darunter 2 000 Internetfirmen. Die Zahl der Konkurse sei dagegen noch "an einer Hand abzählbar." Viele "tragende Ideen" sieht Rohleder nach wie vor bei Startups. Doch selbst, wenn daraus nur eine zweite SAP wachse, "hat sich der Aufwand an der Börse gelohnt."

Grundsätzlich gilt: Wer Marktwirtschaft will, muss sich auch zur Pleite bekennen -- die gehört zu unserem Wirtschaftssystem. Jeder Anleger und jeder Unternehmer muss sich darüber im Klaren sein, dass mit Chancen auch Risiken verbunden sind. … Was sich im Moment am Neuen Markt abspielt, ist kein Einzelfall. … Dadurch wird allen wieder bewusst, dass nachhaltige Erfolge nur mit solidem Wachstum erreicht werden können und nicht durch eine Inflation der Aktienkurse.

Bernd Thiemann, Chef der DG-Bank, in Die Woche 5.1.2001, 16

 
Links

Thesenpapier von Tilman Felshart

www.fuckedcompany.com

www.dotcomfailures.com

www.startupfailures.com

Ijustgotfired.com -- Netzwerk der Gefeuerten

Ausschnitte aus Michael Wolffs Failure-Story Burn Rate

Lucy Kellaway: Warum Scheitern in der New Economy als sexy gilt. FTD 9.10.2000

John Cassy: A study in failure. Hard copy version of the Boo disaster. Ein Buch verspricht die ultimative Failure-Story. Guardian October 10, 2000

Jerry Useem: Dot-Coms: What Have We Learned? Special in Fortune, October 30, 2000

Greg Sandoval: Failed dot-coms worry consumers waiting for goods. CNET News.com 18.10.2000

Carrie Johnson: Dot-Coming and Going. Washington Post November 8, 2000

Reuters: New study counts 130 dot-com shutdowns this year. San Jose Mercury News Nov. 16, 2000

Jürgen Schönstein: Trost bei der "Pink Slip Party". Die Opfer von Internet-Pleiten in den USA feiern weiter - ihre Entlassung. Berliner Morgenpost 19.11.2000

The Economist: Living in freefall. How do you run a business whose share price has dropped by 90%? A lot of Internet companies are finding out. Nov 18th 2000

J. William Gurley: A great time for building great companies. News.com, November 20, 2000

Amey Stone: How Greed Ruined the Web. Business Week Online 22.11.2000

Christian Radler: Tipps und Trost für Dot.com-Versager. Spiegel Online 28.11.2000

Farhad Manjoo: Only the Good Sites Die Young? Wired News Nov. 30, 2000

Ina Bauer: Fast jeder zweiten Internet-Firma drohen Liquiditätsprobleme. FTD vom 4.12.2000

Bob Tedeschi: Lessons From the Online Rubble. NYT 11.12.2000

Anne Lacker: Die Queen der New Economy. Porträt der Gründerin von Lastminute.com, das der Börsenabschwung voll getroffen hat. WebWelt 6.12.2000

Carlotta Mast: Living Through the Death of a Dot-Com. An insider tells what it was like to experience the exuberant rise and crushing fall of Pets.com. Business Week Online 13.12.2000

Michael Learmonth: Boxman's assets go for a song. The Industry Standard Europe December 13, 2000

Andrew Ross Sorkin: From Big Idea to Big Bust: The Wild Ride of Boo.com. NYT 13.12.2000

Richard Fletcher: Death of a dotcom. Boxman's funeral. Telegraph 17.12.2000

Amey Stone: Crawling from the Dot-Com Wreckage. Business Week 19.12.2000

Brad Stone: Finally, the Net Gets Real. The Internet's tumble has shaken up the dot-com market, weeding out weaker start-ups. Newsweek 25.12.2000

Douglas Rushkoff: Das vermeintliche Ende des Internetbooms. 10 Gründe, um am Ende des schlimmsten Internetjahres zufrieden zu sein. Telepolis 27.12.2000

Willkommen in der Normalität. Bereits kurz nach ihrer Entstehung steckt die neue Ökonomie in einer schweren Krise. FTD 28.12.2000

Stefan Krempl: Webmiles bläst zum Rückzug. Andere deutsche Start-Ups ziehen ebenfalls die Notbremse. Berliner Morgenpost 29.12.2000

rtr: Kursverluste bedrohen Internet-Boom nicht. D21-Chef: Deutschland braucht den Neuen Markt. Berliner Morgenpost 29.12.2000

Stefan Krempl: Brüche in der deutschen Erfolgsgeschichte Intershop. Heise Newsticker 2.1.2001

dpa: Branchenverband sieht deutsche IT-Firmen in guter Verfassung. In: Heise Newsticker 6.1.2001

Paul Farrelly: Letsbuyit bought it - and how. The Observer January 7, 2001

E-Business bleibt attraktiv. Dax-Unternehmen halten an Internet-Investitionen fest. Handelsblatt 8.1.2001

Nina Wu: Dot-com false alarm. San Francisco Examiner 17.1.2001

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