Stefan Krempl

 

Das Internet -- ein neues Massenmedium?

Aus der Entwicklungsgeschichte des Internet

Wie bei so vielen Kommunikationstechniken gaben militärische Überlegungen den Anstoss zu seiner Gründung. Ein Gedanke des US-Militär bei den Urplanungen zum Internet war, mit dem einem Computernetzwerk die Kommunikation im Falle eines Atomschlages aufrechterhalten wollte. Die ersten Ideen für das spätere Internet wurden zur Zeit des Kalten Krieges entwickelt und von der (Defense) Advanced Research Project Agency (ARPA bzw. DARPA), einem der wichtigsten Forschungszentrum des US-Verteidigungsministerium, vorangetrieben. Die ersten Tests erfolgten von Anfang an mit führenden amerikanischen Universitäten, die letztlich nicht nur die Technik sondern auch die ersten Anwendungen bestimmten und das frühe Rechnernetz vor allem zu Kommunikationszwecken (Email) oder zum Dateienaustausch nutzten.

Einer der wichtigsten Visionäre in der Frühzeit der Vernetzung von Computern war J.C.R. Licklider, Professor für Psychoakustik am MIT, der von der Vorstellung fasziniert war, Computer als Denkwerkzeuge einzusetzen, und so die Forschung der ARPA in Richtung interaktive Computernutzung lenkte.

Es muß gesehen werden, daß die Einführung des Internets in den USA (wenn man von militärischen Anfängen absieht) als ein kollektiver Akt der Academic Community des Landes interpretiert werden kann. Sie war von einer massiven Kritik am herkömmlichen, gerichtet arbeitenden Mediensystem begleitet, vor allem dem kommerziellen, werbe- und unterhaltungsorientierten Fernsehen.

Hans Kleinsteuber/Martin Hagen: Interaktivität -- Verheißungen der Kommunikationstheorie und das Netz. In: Neverla (Hg.) (1998): Das Netzmedium.

Einer der wichtigsten Gründe für die Vernetzung war damals, dass Computer noch sehr teuer waren und nur über begrenzte Rechenleistung verfügten. Die Netzpioniere suchten daher Wege zur rationelleren Nutzung der teuren Geräte und überlegten sich Möglichkeiten für das "Timesharing". Die Rechenleistung eines Computers wurde dazu in einzelne Aufgabenstellungen aufgesplittet, die Nutzer über Terminals in Auftrag geben konnten. In die frühen Timesharing-Systeme wurde auch eine Funktion eingebaut, durch die sich die einzelnen Computeranwender über den Zentralrechner Nachrichten zusenden konnten. Die "computer mediated communication" (CMC) war geboren, und zugleich reifte die Idee der ARPA, getrennte und auf unterschiedlichen Systemen basierende Computer über ein Netzwerk miteinander zu verbinden.

Die grundlegende Technik zum Datenaustausch entwickelte die "Denkfabrik" Bolt, Beranek und Newman (BBN), bei der Robert Kahn die Software und die Schnittstellen für die Datenübertragung entwickelte und Ende August 1969 der ARPA zur Verfügung stellte. Zunächst wurden damit die University of California Los Angeles sowie das Stanford Research Institute im Silicon Valley verbunden, wenig später wurde die Unis von Santa Barbara und Utah angeschlossen. Die Übertragungsraten lagen damals schon im Bereich eines ISDN-Kanals (64 Kilobits pro Sekunde). 1971 waren bereits zwanzig Computerzentren an das ARPANET angeschlossen. Es folgten weitere Netzwerke zwischen Forschungseinrichtungen wie das BITNET oder das CSNET. 1986 übernahm die National Science Foundation (NSF) der USA den Ausbau des NSFNET, die erstmals kommerzielle Unternehmen wie IBM oder MCI mit der Planung der Infrastruktur, des sogenannten Backbones des sich immer stärker verzweigenden Netzwerks beauftragte. Damit war der Schritt zur Kommerzialisierung nicht mehr weit, Mitte der 90er zog sich die NSF schließlich endgültig aus der Finanzierung des Internet zurück.

Den richtigen Boom erfuhr das Internet erst durch die Erfindung des World Wide Web, des "bunten" Teil des Netzwerks, den Tim Berners-Lee von 1989 an am CERN in Genf entwickelte (>>> s. Kurseinheit zu Hypertext). Man sollte angesichts der bunten Bilderwelt im multimedialen Web allerdings nicht vergessen, dass die meisten "Surfer" weniger surfen, als vielmehr Email lesen, Chatten oder in Newsgroups diskutieren.

Die Netztechnik

Die Datenübertragungen im Internet erfolgt auf dezentralem Wege. Das von Vint Cerf und Robert Kahn erfundene Transmission Control Protocol/Internet Protocol (TCP/IP) teilt dazu Dokumente oder die zu vermittelnde Kommunikation allgemein in einzelne Datenpakete ("Packet Switching"). Jedes Paket wird mit einer Empfängeranschrift versehen und über die verschiedensten Wege und Netzknoten an den Zielcomputer geleitet. Gehen unterwegs Pakete verloren, können sie erneut angefordert und über eine alternative Streckenführung "geroutet" werden.

Einzelne Rechner sind im Internet über ihre IP-Nummer zu identifizieren, denen mit dem Domain Name System auch leichter verständliche Namen im Klartext (www.euv-frankfurt-o.de) zugewiesen werden können. Da die Namenvergabe immer nur einmal möglich ist, und die Domainendungen wie .de oder auch .com limitiert sind, entbrennen immer wieder heftige Streits um die wichtigen Kennungen im Netz. Die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) wurde im November 1998 gegründet, um die Vergabe von IP-Nummern und Domain-Namen zu koordinieren.

Vint Cerf und Robert Kahn erhalten von Ex-US-Präsident Bill Clinton eine Forschungsauszeichnung für die Erfindung des TCP/IP-Protokolls

Daten und Informationen werden im Internet auf Servern abgelegt, von denen sie über Clients bzw. vernetzte Terminals (in der Regel PCs) abgerufen werden können. Im Prinzip kann jeder Client auch wieder ein Server bzw. ein Knoten im Netz werden, was sich die so genannte "Peer-to-Peer"-Technik (P2P) zu eigen macht. Bekannt gemacht hat die Technik vor allem der Musik"tausch"dienst Napster, obwohl bei ihm die Suchanfragen noch über einen zentralen Server liefen. Nachfolger wie Morpheus oder Audiogalaxy gehen noch einen Schritt weiter und stellen nur die Software für die Vernetzung der P2P-Nutzer zur Verfügung.

Anwendungen und Mythen

Wenn es zwischen dem Server und dem Client im Prinzip keinen großen Unterschied mehr gibt, kann jeder "Empfänger" oder Konsument gleichzeitig -- zumindest theoretisch -- auch zum "Sender" oder Produzenten werden. Allgemein wird das Internet daher als ein Medium betrachtet, das traditionelle Hierarchien und Autoritäten unterlaufen kann und stark dezentralisierend wirkt (vgl. Gillet/Kapor 1996).

überall vernetzt...

Die technischen Charakteristika des Netzes -- seine Dezentralität, seine Verzweigtheit und die Möglichkeit, sowohl Daten zu senden wie auch zu empfangen -- haben zahlreichen Hoffnungen und Mythen Nahrung gegeben. Auch wenn die Nutzung heutiger Massenmedien wie das Fernsehen von der modernen Kommunikationsforschung nicht mehr als rein passive Rezeptionsangelegenheit angesehen wird, da der Zuschauer beispielsweise mit der Fernbedienung sein "eigenes Programm" zappt oder parasoziale Interaktionen mit Bildschirmfiguren aufbaut, so ist der Grad der Interaktivität im Internet doch viel höher. Massenkommunikation wird im Netz vielfach durch Individualkommunikation überlagert, man kann Email beispielsweise zur persönlichen Ansprache eines einzigen Kommunikationspartners nutzen, über eine Mailingliste aber auch eine Gruppe ansprechen, deren Zusammensetzung dem Sender einer Nachricht meist nicht bekannt ist.

Das spezifische Eigenschaftsprofil, das dem Netz-Medium zugesprochen wird und das gewissermaßen die materielle Basis der Visionen bietet, läßt sich zusammenfassen im Begriff des "Rhizoms"... Die französischen Theoretiker Gilles Deleuze und Félix Guattari, Philosoph der eine, Psychoanalytiker der andere, haben ... das transversale Rhizom als Paradigma der postmodernen Gesellschaft beschrieben. Dieser Begriff ist der Biologie entnommen und meint das unentwirrbare, unterirdisch wuchernde Wurzelgeflecht von Sträuchern. Kennzeichen des Rhizoms sind Vernetzung und Heterogenität, Vielheit, permanente Veränderbarkeit und Unzerstörbarkeit durch vielfältige Anschlußmöglichkeiten. Im Diskurs zum Netz-Medium wird das Rhizom als Metapher und Charakterisierung aufgegriffen, verbunden mit spezifischen Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft, Medien und Kommunikation...

Irene Neverla: Das Medium denken. In: Neverla (Hg.) (1998), 24

Einer der hartnäckigsten Netzmythen, der mit der rhizomartigen Struktur des Internet zusammenhängt, ist der von der Unzensierbarkeit des Netzes. Dem Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, John Gilmore, wird der Satz zugeschrieben: "The Internet treats censorship as damage and routes around it." Andere Denker wie Pierre Lévy oder auch Vilém Flusser folgern daraus, dass die Interaktionsmöglichkeiten des Netzes herkömmliche Hierarchien unterminieren würden und sich das Internet als "technische Verwirklichung der Ideen der Moderne" sowie als "legitimer Nachfolger des Projekts der Aufklärung" erweise (Lévy 1998, 69). Denn im Zeitalter der elektronischen Medien "verwirklicht sich die Gleichheit durch die Möglichkeit jedes einzelnen, zum Sender für alle zu werden. Die Freiheit objektiviert sich in verschlüsselten Programmen und im alle nationalen Grenzen überschreitenden Zugang zu den vielen virtuellen Gemeinschaften. Die Brüderlichkeit kommt schließlich durch den weltweiten Zusammenhang zur Geltung" (ebd.).

Karte des Internet, gefärbt nach nationalen IP-Adressen, von William R. Cheswick, Bell Lab

Derartige "Erlösungstheorien" sind allerdings keineswegs neu. Armand Mattelart beschreibt in der deutschen Ausgabe der Le Monde Diplomatique in der taz vom 4.11.95, dass ähnliche demokratisierende Wirkungen bereits von den Medien Telegraf, Radio, Film und Fernsehen und sogar von den Verkehrsnetzen wie dem der Eisenbahn erwartet wurden. "Am Ende unseres Jahrhunderts sind nun die "Datenautobahnen" das Ticket für eine neue Runde auf dem Karussell der Utopien. In einer Rede vor Experten der Internationalen Fernmeldeunion, 1994 in Buenos Aires, hat Albert Gore, der damalige Vizepräsident der Vereinigten Staaten, das Projekt "Infrastrukturen im globalen Zeitalter" denn auch mit dem Argument gerechtfertigt, dass die großen sozialen Ungleichheiten auf der Welt beseitigt werden müssten. So wurde das unerreichbare Ideal der "transparenten Gesellschaft" im Netz weitergepflegt, ein "Mythos, der so alt ist wie die Idee der Moderne" und erst nach und nach entzaubert wird im Netzalltag und durch die Dotcom-Krise.

Das Internet als Informationsmedium

Das Internet mit seinen Abermillionen von Websites sowie seinen zahlreichen Diensten und Anwendungsmöglichkeiten ist das Basismedium der Informationsgesellschaft. Informationen, die früher höchstens Geheimdiensten zur Verfügung standen, sind heute offen im Netz und seinen unzähligen Datenbanken verfügbar, jeder mit einem Internetanschluss ausgestattete Bürger kann sie ausschöpfen. Der normale Surfer ist heute dazu in der Lage, innerhalb weniger Minuten in den Beständen von Bibliotheken rund um die Welt zu recherchieren, Tageszeitungen aus so gut wie jedem Land online zu lesen, sich persönliche Newsfeeds über Nachrichtenagenturen oder hochwertige Mailinglisten in den Rechner schicken zu lassen, Fragen in Newsgruppen zu stellen und im Usenet wie per Email über Gott und die Welt zu diskutieren.

"Vor fünf Jahren wären Nachrichtendienste vor Mord nicht zurückgeschreckt, um diese Möglichkeiten in ihre Finger zu kriegen. Heute kann es jeder von seiner Bude aus machen".

Adams, James (1998): The Next World War. Computers Are the Weapons and the Front Line is Everywhere. New York (Simon & Schuster), 224

Für den Nutzer stellt sich wegen des Überangebots an Quellen in der Regel die Frage nach der Relevanz der offerierten Informationen. Er kann sich nicht mehr auf das Verstehen, Verarbeiten und Verwenden von Informationen beschränken, sondern muss auch Angebote kritisch-distanziert verfolgen und selektieren.

Das Internet als Kommunikationsmedium

Das Netz unterstützt als "Integrationsmedium" drei Typen von Kommunikation gleichzeitig (vgl Krotz 1998, 118):

  • Die traditionelle Massenkommunikation. Im Netz lassen sich standardisierte, an ein allgemeines Publikum adressierte Medienprodukte rezipieren. Fernsehen und Internet wachsen zudem immer weiter zusammen, die "Tagesschau" lässt sich etwa über Real-Video im Web anschauen.

  • Die interpersonelle Kommunikation. Per Email oder Internet-Telefonie, in Chats oder über Videokonferenzen können Netznutzer sich direkt untereinander austauschen.

  • Ein neuer Typus von Kommunikation erfolgt ausschließlich zwischen Maschinen bzw. zwischen Maschinen und Menschen. Dabei interagieren intelligente Softwareagengen oder "Robots" miteinander oder mit dem Surfer.

Das Internet eröffnet somit "einen neuen, integrierten, kontextvariablen und damit beeindruckend umfassenden Interaktionsraum für die Menschen, der ganz unterschiedliche Nutzungsweisen ermöglicht und auf ganz spezifische Weise genutzt wird. Diese Nutzung hat aufgrund der strukturellen Bedingungen der computervermittelten Kommunikation Konsequenzen für Selbstverständnis und Weltbild der Menschen" (ebd, 126).

französisches Internetcafé

Wichtig ist dabei, dass sich im Netz eine neue Form der Öffentlichkeit etabliert, eine Arena auch politisch motivierter Kommunikation, die Akteuren eine aktive Teilnahme und Positionierung ermöglicht, für die die Öffentlichkeit der Massenmedien nicht zugänglich war.

Letztlich ist die weitgehend freie Informationswelt des Netzes nur der Höhepunkt einer medialen Entwicklung, die seit Erfindung der Gutenbergpresse und dem Fernsehen seinen Lauf nimmt und in den 1990ern ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. "In den letzten zehn Jahren hat sich die Art und Weise, wie die Medien Meinung machen, dramatisch verändert. CNN ist überall, und wo CNN hingeht, folgen all die anderen Medienproduzenten rasch nach" (Adams, a.a.O., 281).

 
Links

All about the Internet. Zusammenstellung von Links zur Internet-Geschichte von der Interent Society

Ronda Hauben: The Birth of the Internet: An Architectural Conception for Solving the Multiple Network Problem, version 1.07, April 30, 2000 (ASCII-Textdatei)

A Little History of the World Wide Web vom World Wide Web Consortium (W3C)

Mike Sandbothe: Ist das Internet cool oder hot? Zur Aktualität von McLuhans Vision medialer Gemeinschaft. Telepolis 12.09.1996

Stefan Krempl: Ist das Internet ein Massenmedium? Oder: Wo bleibt die digitale Revolution? Telepolis 22.07.1997

Bernhard Debatin: Metaphern und Mythen des Internet. Demokratie, Öffentlichkeit und Identität im Sog der vernetzen Datenkommunikation. 1997

Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie und das Internet. (gedruckt in: Über Medien. Geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Sybille Krämer, Berlin 1998, 95 - 110)

Frühe Visionen der Internet- und Hypertext-Pioniere. Präsentation von der University of Berkeley April 1998

Hans-Arthur Marsiske: Multimedia gab es schon immer. Ein Gespräch mit Johannes Fried, Professor für mittelalterliche Geschichte. Telepolis 18.05.1999

Hans-Arthur Marsiske: Man darf die Rolle der Schrift nicht überbewerten. Ein Gespräch mit Wilhelm Voßkamp über Geschichte und Utopie der Medien. Telepolis 18.06.1999

Mike Sandbothe: Wie der Ausflug in die Welt der virtuellen Quasselbuden unser reales Dasein bereichern kann. 2001

Stefan Betschon: An den Rändern des Netzwerks. Mit Peer-to-Peer zu überschaubaren Teilsystemen. NZZ 4.5.2001

Peter Kempin und Wolfgang Neuhaus: Das Internet als globale "Beziehungsmaschine". Wie die Virtualität die sozialen Handlungsansprüche verändert. Telepolis 6.5.200

Goedart Palm: Die Zukunft des Lesens. Während die Aliteralität steigt, neigen netzorientierte Leser zum schnellen Scannen der Texte. Telepolis 24.05.2001

Richard Barbrook: Das utopische Moment der Vernetzung. Die Napsterisierung der Welt. textz.com 2002

Geert Lovink: Die Netzwerkgesellschaft und ihre Wirklichkeitsromantiker. Hubert L. Dreyfus: On the Internet -- eine Rezension. Telepolis 18.04.2002

Niko Deussen: Per Zeitmaschine in die Vergangenheit. Das amerikanische Internet-Archiv hat seine Webseiten-Sammlung jetzt auch für private Surfer zugänglich gemacht. Die Zeit 16/2002

Georg Jünger: Ein neues Universum. Das World Wide Web von
heute bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die das System "Xanadu" schon vor 40 Jahre entworfen hatte. taz 17.04.2003

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