Stefan Krempl

 

Hypertext und die Vision vom Datenuniversum:
das Ende der Gutenberg-Galaxis?

Die Geschichte des Hypertexts

Mit der Entwicklung des Metamediums Computer ist schon sehr früh der Gedanke verbunden, Informationsbausteine in Form von Texten und Bildern miteinander zu verknüpfen zu einer Art Datenuniversum. Aus dem Metamedium soll ein Hypermedium werden.

Die entscheidende Neuerung, die die Computer in die Welt der Repräsentationsmaschinen eingebracht haben, besteht in ihrer Fähigkeit, n-dimensionale Räume aufzubauen. Das Stichwort 'Hyperraum‘, das diese Eigenschaft bezeichnet hält den ungeheuren Denkanreiz fest, der von der neuen Signifkantenordnung ausgeht (hyper wird häufig in Zusammensetzungen mit super-, über-, oder übermäßig gebraucht).

Hartmut Winkler 1997, 39

Vannevar BushVordenker des Konzepts des Hypermediums ist Vannevar Bush, der bereits Anfang der dreißiger Jahre mit einem Entwurf für einen "vernetzten" Bibliotheksarbeitsplatz den Computer als Erweiterung des menschlichen Gedächtnisses ansah. Zielsetzung des wissenschaftlichen Beraters des US-Präsidenten Theodore Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs war es, den Zugriff auf die immer größere Menge wissenschaftlichen Materials zu vereinfachen und zu verbessern. So designte Bush auf dem Papier die Maschine Memex (memory extender), die er damals noch auf der Basis von Mikrofilm-Dokumenten zu verwirklichen dachte (vgl. Meyer, Herbert: Von Punkt zu Punkt: Skizzen zu einer Theorie der interaktiven Medien. In: Nöth/Wenz 1998, 177-194, hier: 180f >>> im Reader auf der CD).

Memex wurde nie gebaut, doch die Vision Bushs lebte weiter. 1945 erschien sein wegweisender Artikel "As We May Think" im "Atlantic Monthly". Darin knüpft der Vordenker an die drohende Wissensüberflutung an, die seiner Meinung nach mit traditionellen Medien nicht mehr zu bewältigen ist. Die Technik, mit der wir durch das Meer von Informationen steuern, entspricht immer noch dem Stand der Segelschiffahrt, schreibt Bush. Millionen von herausragenden Gedanken seien wohl eingeordnet in die endlosen Bücherregalen der großen Bibliotheken. Als damit verbundenenes Hauptproblem macht Bush die Mühsamkeit aus, mit der die entsprechenden Informationen zu finden sind. Das wiederum liege in der inadäquaten Weise der Speicherung, der Darbietung und des Zugriffs auf die vorhandenen Informationen begründet. Neue Formen der Selektion und des Zugriffs seien daher gefragt.

Our ineptitude in getting at the record is largely caused by the artificiality of systems of indexing. … The human mind does not work that way. It operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain.

Vannevar Bush: As We May Think.

Das Memex-System, so postuliert Bush, habe sich an der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns zu orientieren, das assoziativ und vernetzt arbeite. Memex sollte eine Maschine werden, die eine ähnlich "assoziative" Speicherung und Wiederauffindung von Gedanken, Informationen und Wissen ermöglicht.

Gesucht wird also ein Medium simultanpräsenter Darstellung: … Eben diese Möglichkeit aber eröffnen Hypermedien. Sie implementieren ein Wissensdesign, das Daten gleichsam frei begehbar macht; d.h. sie dekontextualisieren Informationselemente und bieten zugleich Verknüpfungs-Schemata der Rekombination an.

Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, 207

Bush entwarf so ein Leitbild, das Jahre später von Theoder (Ted) Nelson und Douglas Engelbart wieder aufgegriffen wurde. Bei Engelbart -- dem Erfinder der Computermaus -- wurde die von Bush noch als reales Schreibtischsystem gedachte "Gedächtniserweiterung" Memex in den virtuellen Computerraum mit seinen Bildschirmfenstern verlagert. Nelson prägte 1965 den Begriff "Hypertext", dem bis heute in der Wissenschaft häufig der Vorrang vor dem "multimedial" angelegteren Begriff "Hypermedium" gegeben wird. Die Grundidee Bushs greift Nelson direkt auf, schwärmt er doch wie dieser von einem Informationsmedium, das der Art und Weise, wie wir arbeiten und vor allem denken, besser entspricht. Die Software, mit dem Nelson seine Hypertext-Visionen realisieren wollte, nannte er Xanadu -- nach jenem magischen Land aus Coleridges Versepos Kubla Khan. In seinem Buch "Literary Machines" (1981) beschreibt er Xanadu ausführlich und nennt es "a magic place of literary memory". 1974 führt er seine Utopie im Buch "Dream Machines" weiter aus (vgl. Gabriel 1997, 55).

Andries van Dam programmierte schließlich 1967 mit dem Hypertext Editing System an der Brown University die erste arbeitende "Memex"-Software. 1987 fand dann die erste internationale Hypertext-Konferenz statt und Apple stellte das Programm Hyper Card für seine Macintosh-Computer vor (vgl. Meyer, a.a.O., 184).

Heute ist der Umgang mit Hypertext den Web-Nutzern zur Selbstverständlichkeit geworden. Das seit 1989 unter der Federführung von Tim Berners-Lee am Europäischen Zentrum für Teilchenphysik (CERN) entwickelte und 1992 erstmals öffentlich vorgestellte World Wide Web (WWW) ist nichts anderes als ein Hypertext-System, in dem wir uns mit "Browsern" als Navigationsmedien von Link zu Link hangeln können.

Das Funktionsprinzip von Hypertext

Hypertext wird in der Regel (im Gegensatz zum Buch) als eine "nicht-lineare Form der Darstellung bzw. der Aneignung von Wissen" beschrieben (Kuhlen 1991, 5). Das bedeutet, dass sich in einem Hypertext eine Vielzahl von Verzweigungsmöglichkeiten öffnen. Diese sind aber auf der ersten Stufe immer vom Autor des Hypertexts festgelegt worden. Die Verknüpfungsstellen werden -- wie im Web -- als Links bezeichnet.

Website mit Verzweigungen im Überblick

Für das Navigieren bzw. Durchstöbern des Hypertextes hat sich der Begriff "Browsing" bzw. "Browsen" durchgesetzt. Diese Fortbewegung kann zielgerichtet erfolgen (und damit weitgehend linear), aber auch in ein freies, von Neugierde getriebenes Verfolgen von Links münden. Stößt man bei diesem "Treiben im Datenmeer" auf begehrte Informationen, ist vom Mitnahme- bzw. Serendipity-Effekt die Rede (vgl. ebd., 91). Dabei kann man aber auch verloren gehen oder gänzlich abtreiben, sodass ein Gefühl des "lost in hyperspace" entsteht ( ebd., 6).

Let me introduce the word 'hypertext' to mean a body of written or pictorial material interconnected in such a complex way that it could not conveniently be presented or represented on paper.

Ted Nelson: A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate: Proceedings of the 20th National ACM-Conference 1965, 96

Hypertextsysteme sind Vertriebssysteme, die über Hyperlinks den Zugriff in lokalen oder verteilten Netzen auf Informationsbestände regeln. … Der zentrale Mechanismus von Hypertextsystemen besteht darin, informationelle Einheiten über digitalelektronische Verweise miteinander zu verknüpfen.

Herbert Meyer 1998, 189/191

Hypertext wird aufgrund seiner potenziellen Durchbrechung der Linearität oft mit avantgardistischen Literaturversuchen (beispielsweise eines James Joyce) oder dem Begriff der Intertextualität Julia Kristevas in Verbindung gebracht. Auch dabei wird der Text nicht als festes Element mit klaren Positionen zwischen Autor, Leser, Text und Kon- bzw. Intertext verstanden. So entsteht auch laut Kristeva durch intertextuelle Beziehungen ein multidimensionaler Raum bzw. ein Text als Netzwerk. Damit ist der Schritt zum Internet bzw. zum Web, das mit Deleuze und Guattari gerne als Rhizom, als ein Geflecht von Texten beschrieben wird, natürlich nicht mehr weit.

Visualisierung einer vernetzten Hypertext-Struktur durch das "Walrus"-Verfahren von Caida.org

Aufgeworfen wird mit der Intertextualität genauso wie mit dem Hypertext zudem die Frage, inwieweit man überhaupt noch von einem Autorität ausstrahlenden "Autor" sprechen kann, wenn sich der Leser seinen Text selbst zusammenstellt und eventuell noch selbst daran fortschreibt. Daher auch die lebhaft geführte Diskussion um die "Autoren"- und Urheberrechte bzw. das Copyright im Internet (vgl. Wenz, Karin (1998): Der Text im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Nöth/Wenz 1998, 159-176, hier: 172 >>> im Reader).

Die medientheoretischen Hoffnungen rund um das Konzept des Hypertexts

Wie bei zahlreichen Medien zuvor sind auch die mit dem Hypertext verbundenen Utopien groß. Grundsätzlich leiten sich die Erwartungen an das neue Medium aus der Aufbrechung des Zwangs zur Linearität, zum Denken in Syntagmen ab, die mit der Schrift und der Gutenberg-Galaxis verknüpft werden.

Hypertexte sind Maschinen, die Texte quer zum Verlauf des linearen Syntagmas miteinander verknüpfen. An jeder Stelle eines Texte können Querverweise eingefügt werden, die auf andere Texte zeigen; anders als im Fall der traditionellen Fußnote wären diese Texte nicht untergeordnet, sondern gleichrangig mit dem Ausgangstext, und anders als im Fall des Zitats bleibt die Passage in ihren Originalkontext eingebettet. … In jeden Fall entsteht ein komplexes Geflecht, das lineare Syntagmen in eine neue, n-dimensionale Netzstruktur überführt. Und hierin wird ein entscheidender Gewinn an Möglichkeiten und an innerer Komplexität begrüßt. Die neue Signifikantenanordnung scheint die Beschränkungen aufzuheben, denen die lineare Schrift unterliegt, ihr ausschließlicher Charakter scheint überwunden.

Hartmut Winkler 1997, 41

Kein Wunder, dass schon für die Xanadu-Gemeinde rund um Ted Nelson mit Hypertext die Vision verbindet, "sich Wissen gemeinschaftlich über Milliarden Dokumente jeder medialen Art mit Trilliarden Verknüpfungen zum Nutzen der Menschheit zu erschließen" (Kuhlen 1991, 12). Ziel der Hypertext-Anhänger ist es also, Wissen und seine Repräsentationen ohne den "Umweg" über den Text zu verwalten (vgl. ebd., 25). Oder semiotisch ausgedrückt: Ähnlich wie der Film ein Sprechen ohne Sprache, soll der Hypertext nun ein Schreiben ohne Schrift ermöglichen und die Behelfskonstruktion im semiotischen Dreieck, den Umweg über das Signifikat erübrigen.

Das Wissen des Menschen, das sich bisher letztlich im Kopf des Menschen zusammenfindet, wollen die Anhänger des Hypertextes und des auf ihm aufbauenden Datenuniversums also nach außen in die Verknüpfungen des virtuellen Raums veräußerlichen. Internes Wissen soll externalisiert werden im Netz der multimedialen Dokumente.

Hypertext macht explizit, was lineare Schriften noch der hermeneutischen Arbeit auflasten … . Der gesamte hermeneutische Gehalt eines Texts ist in der Verzweigungsstruktur seiner elektronischen Darstellung manifestiert

Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, 222

Das neue Medium verspricht, ein Grauen zu eliminieren. Das Grauen vor der Tatsache, daß Texte grundsätzlich auslegbar sind und ihr hermeneutischer Gehalt eben nie'manifest‘. Der hermeneutische Gehalt … soll aus seinem doppelt unheimlichen Sitz befreit werden, aus dem Dunkel der Köpfe und aus der Disposition über die verschiedenen Individuen und Deutungen, und überführt in den luziden Außenraum, in dem er einer Deutung nicht mehr bedarf. … Im Kern geht es darum, die Differenz zwischen Text und Sprache zu eliminieren, d.h. die Differenz, die das Sprechen von der Sprache grundsätzlich trennt. … Nimmt man den Bolzschen Satz ernst, hieße er, übersetzt in die nach-Saussuresche Terminologie, daß nun syntagmatisch wird, was bis dahin paradigmatisch gewesen ist; daß die neue Signifikantenanordnung den Aufbau n-dimensionaler Netze erlaubt, … bewirkt, daß die Grenze zwischen den Texten und der Sprache niederbricht .

Hartmut Winkler 1997, 50f.

Kurze Kritik an der Hypertext-Utopie

Im Rückblick auf die Mediengeschichte ist leicht zu erraten, dass auch die mit dem Hypertext-Konzept verknüpften Hoffnungen schon bald heftig kritisiert werden. So hinterfragt Meyer (1998, 190) das Postulat, demzufolge sich menschliche Wissensrepräsentation auf ein Hypertextstrukturmodell abbilden lasse. "Für dieses Argument, das ursprünglich in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz angesiedelt ist," gibt es für Meyer jedoch "weder plausible Begründungen noch empirische Evidenz." So ließen sich "höhere kognitive Funktionen" beispielsweise nicht einfach auf das "Operieren mit assoziativ verketten Vorstellungen" beschränken (ebd., 191f.).

Auch Winkler ist nicht der Auffassung, dass die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns auf das Assoziative reduzierbar ist. Seiner Meinung nach hatte der Hypertext-Pionier Bush nur die Untergruppe der sprachlichen Assoziationen bei seiner Modellbildung vor Auge. Demgegenüber kenne die Psychologie allerdings auch bildhafte, verschwommene oder unartikulierbare Assoziationen, die bei Bush außen vor bleiben. Nicht unser Denken betrachtet Winkler daher als "netzförmig/distinktiv", sondern allenfalls unser sprachlich-semantisches System. Der "Kurzschluß" zwischen "dem" Denken und "dem" Computer bzw. "dem" Hyperdatenraum sei daher zurückzuweisen (Winkler 1997, 47).

 
Links

Vannevar Bush (Juli 1945): As We May Think

Die Hyper-Bibliothek (Schweizer Projekt)

Experiment von American Quarterly in Zusammenarbeit mit dem American Studies Crossroads Project der Georgetown University und dem Center for History & New Media an der George Mason University zum Einsatz von Hypertext im Bereich American Studies

Lesen in der Wissensgesellschaft (Projekt LIDWIG)

The Electronic Labyrinth. Studie zum non-linearen Schreiben und zum Hypertext-Archiv

Heiko Idensen: Die imaginäre Bibliothek. Projekt zum "Pool-Processing" und assoziativem Arbeiten

Marc Stiegler: Xanadu: A Scenario. Erstmals publiziert in: Unix Review Februar 1990

Gary Wolf: The Curse of Xanadu. Wired 3.06 (Juni 1996)

Mike Sandbothe: Interaktivität - Hypertextualität - Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet (gedruckt in: Mythos Internet, hrsg. von Stefan Münker und Alexander Rösler, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997, 56-82.)

Adrian Miles: Cinematic paradigms for hypertext. This essay first appeared in Continuum: Journal of Media and Cultural Studies 13.2 July (1999): 217-226

Loss Pequeño Glazier: Hypertext/Hyperpoesis/Hyperpoetics. dichtung digital 31.05.2002

Roberto Simanowski: Hypertext: Merkmale, Forschung, Poetik. dichtung-digital: 4/2002

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