Stefan Krempl (mit Orlin Spassov)

 

Wechselnde Paradigmen in der Medien-
und Kommunikationsforschung.
Frühe Theorien

Vorbemerkung

Die Medienwissenschaft hat wie jedes andere Forschungsgebiet eine geschichtliche Entwicklung (>>> Kurzüberblick zur Mediengeschichte). Im Unterschied zu vielen anderen Disziplinen, deren Forschungsobjekt in der Zeit verhältnismäßig konstant bleibt, verändert sich die Medienwissenschaft mit dem Gegenstand ihres Forschungsbereichs -- den Kommunikationsmitteln -- und ihrer Wechselwirkung mit der sozialen Umwelt. Im 20. Jahrhundert entwickeln sich die Medien außerordentlich dynamisch. Dieser Umstand bestimmt auch den Charakter der Vorgehensweisen der Forschung. Vor sich geht ein aufeinanderfolgender Wechsel der dominierenden theoretischen Paradigmen in Begleitung mit den entsprechenden kritischen Überlegungen vieler sich durchgesetzter Behauptungen der Medientheorie. In diesem Sinne erscheint die Rede von einer einheitlichen Theorie als eher problematisch. Praktisch geht es um einander konkurrierende Visionen über die Rolle und die Funktionsverfahren der Kommunikationsmittel. Eben die Gemeinschaft dieser sich zeitlich wechselnden und inhaltlich oft völlig entgegengesetzten Verfahren gestaltet das Korpus der Medienwissenschaft. Aus diesem Grund ist dieser Problembereich von inneren Konflikten und Spannungen gekennzeichnet.

Vorsicht ist gefragt, wenn man die wissenschaftlichen Sujets verfolgt, die den Weg der Veränderungen markieren. Vorhanden ist eine große Vielfalt an Tendenzen, Praktiken, Mechanismen der Institutionalisierung der Forschung. Angehäuft wurden auch viele Erfahrungen. Die Meinungsäußerung über die Medien geht in den vielfältigsten kritischen Formen vor sich. Dieses bunte Bild des Medienfelds soll in seiner Ganzheit, einschließlich seiner geschichtlichen, erhalten bleiben.

Die Anfänge der Massenkommunikationsforschung

Die Durchsetzung des ersten dominierenden Paradigmas wird gewöhnlich mit den frühen Forschungen der Massenkommunikation in den USA in den 30er Jahren assoziiert. Diese Forschungen weisen eine positive Ausrichtung auf; mit dieser Periode sind auch die ersten Anwendungen der empirischen Forschungsmethoden verbunden. Von der Medienindustrie (1) selbst finanziert, basieren sie selten auf einer ernst zu nehmenden theoretischen Grundlage. Rodger Brown zufolge "existieren die Massenmedien ohne Forschungen der Massenkommunikationen zwischen 1900 und 1935" trotz der stürmischen Entwicklung der Kommunikation in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts (Brown, 1970, 45. Für andere Autoren bleibt das wissenschaftliche Feld lange und in bedeutendem Maße "ein Dschungel nicht miteinander gebundener Konzeptionen … und eine Masse nicht bearbeiteter, oft fruchtloser empirischer Angaben" (Westley and MacLean, 1970, 73). Unabhängig davon werden wichtige Schritte in der Entwicklung der Forschung sichtbar. Sie umfassen die Periode seit dem Ende der 60er Jahre und sind hauptsächlich mit der Arbeit von Wissenschaftlern in den USA verbunden.

Katz und Lazarsfeld zeigen bei ihrer Untersuchung der historischen Entwicklung der Kommunikationsforschung drei Gebiete auf, auf die sich das wissenschaftliche Interesse konzentriert:

  • Erforschung des Auditoriums
  • Analyse des Inhalts
  • Analyse des Effekts.

Den Autoren zufolge ist diese Unterteilung zwar in vielerlei Hinsicht nützlich, als Ganzes aber verdeckt sie den Umstand, dass alle Kommunikationsforschung ihrem Wesen nach Untersuchungen des Effekts sind, d.h. sie geben Antwort auf die Frage, "was die Medien "machen" können." (Katz und Lazarsfeld, 1955, 18).

Die Problematisierung der Massenkommunikation stand zunächst in engem Zusammenhang mit der Meinungsforschung. Man berief sich oft auf Walter Lipmann, was geradezu symptomatisch ist (2). Frühe Theoretiker der Massenkommunikation wie Harold Lasswell sind gewöhnlich auch Autoren von Werken zu Fragen der öffentlichen Meinung; praktisch gibt es keine Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen. Diese Tendenz kommt auch in späteren Werken wie "Öffentliche Meinung und Kommunikation" von Berelson und Janowitz klar zum Ausdruck (Berelson and Janowitz, 1966).




Sehr reduziertes, frühes Kommunikationsmodell

Andererseits setzt sich mit der Entwicklung und dem Erfolg der politischen Propaganda während der beiden Weltkriege -- besonders nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland -- die Überzeugung allmählich durch, dass in den Massenmedien viel Macht konzentriert ist, von der leicht "Gebrauch gemacht werden kann". Medien werden als einflussreich verstanden und der Manipulation und der Kontrolle der Massen verdächtigt. Diese Auffassung erwies sich schon allein daher standhaft, weil hier auf die Praxis der Werbung und die Entwicklung des kommerziellen Rundfunks in den 20er Jahren in den USA wie auch auf die Leistungen der Public Relations hingewiesen wird (Brown, 1970, 46-7). Die Theorien über die Massengesellschaft stehen zwar im Einklang mit den Ideen einer außerordentlichen Effizienz der Kommunikationsmittel. Sie haben aber mehr Einfluss auf das intellektuelle Klima, in dem sich das Wissen über die Medien entwickelt, als auf die konkreten Studien, die auf dem Gebiet der Soziologie (3) verwirklicht wurden.

Politisierung der Medienforschung (Propagandaforschung)

Ein bedeutender Charakterzug des wissenschaftlichen Diskurses ist seine Politisierung. Nach den Worten von Jeremy Tunstall "könnten viele Untersuchungen der Medien auf der Grundlage der Frage "gegen wen?" klassifiziert werden. In den 30er Jahren sind sie gegen die Naziverfolgungen gerichtet, in den 40ern gegen die deutsche und japanische Militarisierung. Später haben viele Forschungsergebnisse einen immer stärkeren "antikommunistischen Ton" (Tunstall, 1970, 3f.). Die Politisierung verfolgt pragmatische Ziele. Sie rückt die Forschungen praktisch ins Feld des angewandten Wissens und erfordert von ihnen einen bestimmten Effekt.

Diese Tatsachen reflektieren stark auf die frühen theoretischen Vorstellungen von der Kommunikation. Eine passende Illustration dazu ist das Modell von Lasswell (1966). Einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (4) fasst Lasswell darin die charakteristische Nähe zusammen, in die Medien und Propaganda gesetzt worden sind. Für Lasswell ist den Initiatoren die dominierende Rolle zuteil geworden; sie kontrollieren voll und ganz den Prozess, das Auditorium dagegen steht ganz passiv da. Das Endziel ist das Erreichen eines messbaren Effekts, das Fehlen an Effekt wird als Hauptproblem in der Kommunikation interpretiert. Es ist kein Zufall, dass Lasswell selbst ein Fachmann im Bereich der politischen Propaganda ist. Für ihn ist "die Propaganda ein Instrument totaler Politik nebst Diplomatie, wirtschaftlichen Maßnahmen und Streitkräften" (Lasswell, 1965, 537). Auch die Entwicklung der Inhaltsanalyse -- ein weiterer bedeutsamer Bereich, der mit der Tätigkeit Lasswells verbunden ist -- bezieht sich anfangs hauptsächlich auf die Erforschung von Propaganda.

Mit Lasswells setzt sich zunächst eine Sichtweise von Massenkommunikation als eines linearen und in einer Richtung vom Sender zum Empfänger verlaufenden Prozesses durch. Somit ist der Anfang der Problematisierung von Massenkommunikation im Feld der Übertragung von Botschaften gesetzt. Die Kommunikation wird nun als ein "Strom" betrachtet, als eine lenkbare und der Kontrolle unterliegenden Tätigkeit. Die Beseitigung der Faktoren, die der effizienten Kommunikation Probleme bereiten, wurde rationalisiert, und die Faktoren selbst aufmerksam klassifiziert. Eingeführt wurde eine Beschreibung der Funktionen der Kommunikation, und die Tätigkeiten auf den verschiedenen Ebenen des Prozesses wurden unter die Lupe genommen.

Shannon und Weavors reduktionistisches Kommunikationsmodell

Gleichzeitig zeichnet sich eine weitere wichtige Tendenz ab. Sie wird mit Claude Shannon und Warren Weaver assoziiert. Obwohl hauptsächlich zur Lösung konkreter technischer Probleme geschaffen, stellt ihre "Mathematische Kommunikationstheorie" (Shannon and Weaver, 1949) im Ansatz trotzdem eigentlich einen Versuch zur Verbindung von Informationsaspekten mit den sozialen Aspekten der Kommunikation dar. Die Theorie unterhält den Glauben an die Möglichkeit, dass der Inhalt des Prozesses durch Quantitätskategorien beschrieben werden kann. In den Sechziger Jahren unternimmt Umberto Eco den Versuch, Grundbegriffe von Shannon und Weaver wie "Redundanz" und "Entropie" mit der Lösung nicht nur kommunikativer, sondern auch ästhetischer Probleme in Verbindung zu setzen (Eco, 1989).

Erweitertes Kommunikationsmodell nach Shannon and Weaver


Vom Gesichtspunkt der sozialen Modelle des Funktionierens der Medien aus ist die Vitalität dieser Theorie jedoch problematisch. Das mathematische Modell bleibt vorwiegend an seine Grundbestimmung gebunden und führt nicht zu bedeutenden Entwicklungen in der theoretischen Behandlung der Verbindung zwischen Medien und Gesellschaft. Dieses Modell löst Fragen der technischen Effektivität des kommunikativen Prozesses und bleibt abseits der dominierenden soziologischen Tradition. Indirekt aber ist sein Beitrag nach wie vor bemerkbar: So hält sich lange die Idee einer möglichen Kontrolle und einer praktischen Messbarkeit der kommunikativen Ströme. Dieser Umstand beweist in großem Maße die paradoxe Nähe von Shannon und Weaver zum Konzept Harold Lasswells.

Die Botschaften der Theorie aus dieser Periode stützen sich in großem Maße auf die Angaben von frühen empirischen Untersuchungen des Auditoriums und der Effektivität der Kommunikation. Die Vervollkommnung dieser Methoden führt allerdings allmählich zum Auftauchen gewisser Widersprüche, zum Mangel an Eindeutigkeit. Während die im Labor kontrollierten Experimente der Effizienz der Medien mit ihren Ergebnissen häufig die These manipulativer Möglichkeiten der Kommunikation unterstützen, machen andere Studien über das Verhalten des realen Auditoriums den Glauben an ihre problemlose Effektivität weniger verlässlich (Brown, 1970) (5).

Vielsagend ist auch die Tatsache, dass im selben Jahr, in dem Lasswell seinen einflussreichen Artikel "Struktur und Funktion der Kommunikation in der Gesellschaft” veröffentlicht, Bernard Berelson schon seine ganz unterschiedliche Idee vom Effekt formuliert: "Irgendeine Art von Kommunikation zu irgendeiner Art von Themen wird der Aufmerksamkeit irgendeiner Art von Menschen unter irgendwelchen Arten von Bedingungen angeboten und das hat irgendeine Art von Effekten” (Berelson, 1948, 172). Diese Art der Erörterung des Effekts zeigt schon Veränderungen an, die die Massenkommunikation in einen breiteren und komplizierteren Kontext setzen. Die frühen Manipulationsthesen werden später allgemein kritisiert (6). Ihre lange Zeit herrschende Eindeutigkeit wird in Frage gestellt.

Anmerkungen

(1) Zum Verhältnis von Finanzierung und theoretischen Ergebnisse im Kontext der frühen Forschungen in den USA und Großbritannien siehe mehr Einzelheiten in Tunstoll, 1970, 4.

(2) Das Buch von Lipmann "Public Opinion", herausgegeben zum ersten Mal 1922, beeinflusst in bedeutendem Maße einige Generationen von Medientheoretikern.

(3) Eine detaillierte Darstellung des Verhältnisses zwischen Theorien über die Massengesellschaft und das Problematisieren der Medien findet sich bei Tony Bennett (Bennett, 1995b).

(4) Der Artikel wurde zum ersten Mal 1948 veröffentlicht; darin werden Stimmungen spürbar, die sowohl vom Zweiten Weltkrieg als auch vom Anfang des Kalten Krieges beeinflusst wurden.

(5) Brown erörtert im breiten Kontext des Verhältnisses "akademisch engagierter und kommerziell engagierter Forschung” sowie im Zusammenhang mit der Organisation des akademischen Lebens in den amerikanischen "Media-Departments" die Entwicklung der Theorie und das Interesse an der angewandten Forschung. Über die diversen Ergebnisse kontrollierter Experimente und die Erorschung sozialer Standardsituationen s. auch Klapper (1965).

(6) Siehe z.B. Klapper (1966, 475).

 
Literatur

Bennett, Tony (1995b) ‘Theories of the Media, Theories of Society’, in Gurevitch, M., Bennet, T., Curran, J. and Woollacott, J. (eds.) Culture, Society and the Media, London and New York, Routledge.

Berlson, Bernard (1948) 'Communications and Public Opinion', in Schramm, W. (ed.) Communications in Modern Society, Urbana, University of Illinois Press.

Berlson, Bernard and Janowitz, Morris (eds.) (1966) Reader in Public Opinion and Communication, New York, The Free Press.

Brown, Roger L. (1970) 'Approaches to the Historical Development of Mass Media Studies', in Tunstall, J. (ed.) Media Sociology. A Reader, London, Constable.

Eco, Umberto (1989) The Open Work, Cambridge, Mass., Harvard University Press.

Katz, Elihu and Lazarsfeld, Paul F. (1955) Personal Influence. The Part Played by People in the Flow of Mass Communications, New York, Free Press.

Klapper, Joseph (1965) 'The Comparative Effects of the Various Media', in Schramm, W. (ed.) The Process and Effects of Mass Communication, Urbana, University of Illinois Press.

Klapper, Joseph (1966) 'The Effects of Mass Communication', in Berelson B. and Janowitz M. (eds.) Reader in Public Opinion and Communicaton, New York, The Free Press.

Lasswell, Harold D. (1965) 'The Strategy of Soviet Propaganda', in Schramm, W. (ed.) The Process and Effects of Mass Communication, Urbana, University of Illinois Press.

Lasswell, Harold D. (1966) 'The Structure and Function of Communication in Society', in Berelson B. and Janowitz M. (eds.) Reader in Public Opinion and Communicaton, New York, The Free Press.

Shannon, Claude L. and Weaver, Warren (1949) The Mathematical Theory of Communication, Urbana: University of Illinois Press.

Tunstall, Jeremy (1970) 'Introduction', in Tunstall, J. (ed.) Media Sociology. A Reader, London, Constable .

Westley, Bruce and MacLean, Malcolm S. (1970) 'A Conceptual Model for Communications Research', in Sereno, K. and Mortensen, D. (eds.) Foundations of Communication Theory, New York and London, Harper & Row.

Models of Communication. Übersicht von der japanischen Keio University Shonan Fujisawa

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