Stefan Krempl

 

Vom Alphabet über die technischen Bilder zum Computer

Wie wir am Beispiel der Sprache bereits gesehen haben, gibt es in der Mediengeschichte immer wieder einzelne "Leitmedien", die sich als geschlossenen und alle Bedürfnisse der Menschen befriediegenden Kosmos präsentieren. Gerade die Sprache ist über lange historische Perioden als eine idealisierte Sphäre betrachtet worden, die jenseits des Sprechens und im Singular (als Abstraktion in Form der Saussureschen langue) ihre eigentliche Existenzweise hat. "Die konkreten Äußerungen und Texte, die Widersprüche und die widerstrebenden Meinungen schienen nur der Vordergrund zu sein, gegen den sich die Sprache als ein Gemeinsames, Eigentliches um so leuchtender erhob" (Winkler 1997, 72). Klar wurde auch bereits, dass diese abstrahierte Sonderstellung der Sprache zu hinterfragen ist. Wir waren zudem bereits auf das Phänomen der Sprachkrise gestoßen, in der die Möglichkeiten der Wirklichkeitserfassung durch die Sprache generell verloren zu gehen schienen.

Um so erstaunlicher ist nun aus mediengeschichtlicher Perspektive, dass das System der technischen Bilder, das mit dem Aufkommen der Fotografie und später des Films bzw. des Fernsehens die Sprache (und die Schrift) als Leitmedien zurückdrängte und in die Phase der sekundären bzw. der tertiären Medien überleitete, mit ähnlichen Totalitätsphantasien, überzogenen Hoffnungen und Illusionen antritt.

Das System der Bilder, zugänglich und international verständlich, schien das babylonische Nebeneinander der Sprachen zu hinterschreiten und einen völlig neuen Typus von Totalität herstellen zu können. Noch einmal war es der privilegierte Weltbezug, auf den die Phantasie sich stützte; eine Vorstellung von 'Transparenz‘, die nun durch die Besonderheiten der photographischen Apparatur und die Ikonizität der photographischen Bilder sichergestellt schien.

Hartmut Winkler 1997, 74

Dass den Bildern schon vor ihrer Technisierung eine große Bedeutung für die Erkenntnis zugeschrieben wurde, liegt vor allem an ihrer leichten Zugänglichkeit über den wichtigen Gesichtssinn des Auges. "Das sinnline Anschauungswissen ist so selbstverständlich, dass wir es erst erkennen, wenn es verloren gegangen ist. Wir brauchen nur die Augen zu öffnen, um vom Anschauungswissen Kenntnis zu nehmen. Die Welt stellt sich uns bildlich vor in Formen und Gegenständen, in ruhenden und bewegten Gestalten. Diese Konstruktion der visuellen Welt erfolgt völlig mühelos, indem unser Auge die Umrisse von Objekten wahrnimmt und sie als Figuren und Muster vom Hintergrund abtrennt" (Pöppel, Ernst (2000): Drei Welten des Wissens -- Koordination einer Wissenswelt. In: Maar, Christa/Hans Ulrich Obrist/Ernst Pöppel (Hg.) (2000): Weltwissen. Wissenswelt. Köln (DuMont), 25).

Bilder werden so zu einer prägenden Kraft für den Menschen: "Wenn wir uns fragen, welches unsere erste Erinnerung ist, dann tritt in unsere Vorstellung ein Bild, und dieses Bild bezieht sich auf einen bestimmten Ort und ein bedeutsames Ereignis, das uns nicht mehr loslässt" (ebd., 26).

Die Funktionsvielfalt der Bilder ist damit sehr groß. Sie treten dem Menschen als Anschauungsobjekte entgegen, in denen Bezug auf die Realität gemacht wird; sie entfalten ihr Eigenleben als innere Vorstellungsbilder, die etwa auch ein Dichter mit Worten in uns wachrufen kann; sie sind damit auch Kommunikationsmittel, die einen Bezug zwischen den Gegenständen und den Menschen sowie zwischen verschiedenen Menschen herstellen.

Eine sehr weite Definition des Bilds gibt in diesem Sinne Bruno Latour: "mit Bild meinen wir jede Einschreibung, Abbildung, jedes Zeichen, Kunstwerk, das als Vermittlung dient, um Zugang zu etwas anderem zu gewinnen" (zitiert nach Tom Holert: Wer hat Angst vor Lenin & Co.? Süddeutsche Zeitung 06.05.2002).

Der oft beschworene "Clash" zwischen Schrift (explizitem, konstruiertem Wissen) und Bildern mit ihrem impliziten Anschauungswissen, der auch mit dem Begriff des "iconic turn", der Wende hin beziehungsweise zurück zum Bild in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte assoziiert wird, erscheint de Kerckhove auf Basis dieser Definition als konstruiert. Denn die Schrift visualisiert sich ja selbst in "Schriftbildern" und hat damit die Ausrichtung auf das Auge als hauptsächlichen Gesichtssinn erst beziehungsweise weiter verstärkt (>>> Schrift und Verschriftlichung).

Die Euphorie rund um das Foto und den Film

Fotografie und Film wurden von ihren Zeitgenossen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stürmisch begrüßt als eine Art der Erlösung von der Sprache sowie als neue Medien, die Realität endlich "realistisch" darstellen. So geht etwa Walter Benjamin in seinem Traktat "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (zuerst erschienen Anfang der 30er Jahre des 20. Jh.) davon aus, dass zur Kamera eine andere (der Realität nähere) Natur spricht als zum menschlichen Auge: "an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums [tritt] ein unbewußt durchwirkter". Aus dieser Bestimmung spricht "der Wahrnehmungsschock" des angeblich "reinen Seins", den die Fotokamera dem menschlichen Auge zu enthüllen scheint (vgl. Hartmann 2000, 201). Dazu kommt, dass sich Bilder, wie bereits Benjamin betont, leichter rezipieren lassen als etwa die Schrift und sich die Wirklichkeit (etwa die Architektur) in ihnen geradezu "wirklicher" darstellt als in der Wirklichkeit selbst.

Die Anfänge des Films Ende des 19. Jahrhunderts

Es ist dann der französische Filmtheoretiker Christian Metz, der Anfang der Sechziger den Film als "Sprechen ohne Sprache" beschreibt (Metz 1972, 51ff.). Dahinter verbirgt sich für Winkler "die bündigste Formulierung der Utopie, die der Film der Sprache entgegensetzt und die den Systemcharakter der Sprache negiert" (Winkler 1997, 207). Der konventionelle Umweg über das Signifikat, der sich im semiotischen Dreieck der Sprache noch abbildet, scheint mit dem Foto und dem Film nicht mehr nötig zu sein -- so lautet das Versprechen.

Fotografie und Film sind tatsächlich der radikale Typus einer Sprache, die ausschließlich in Konkreta sich artikuliert. … Wenn das Konzept 'Tisch' tatsächlich in die Pluralität der konkreten, fotografierbaren Tische aufzulösen ist, so bedeutet dies vor allem, daß Abstraktion und Subsumtion, letztlich also die Signifikatbildung, vermieden werden können. … In der Summe enstand ein System, das von seiner ganzen Struktur her nicht 'lügen' konnte. Wenn über die technischen Bilder immer in Kategorien des Realismus, der Wahrheit und des Weltbezugs gesprochen worden ist, so lag dies … vor allem [daran], daß die gesellschaftliche Vermittlung ausgeschaltet schien und ein Sprechen ohne Sprache möglich.

Hartmut Winkler 1997, 207ff.

Auch ein anderer bedeutender Filmtheoriker, Siegfried Kracauer, macht aus seiner Begeisterung für die Bilderabfolge kein Hehl. Kracauers These ist dabei laut Hörisch zum einen "von wunderbarer Schlichtheit": Mit dem Film gelinge es endlich, Wirklichkeit wiederzugeben und zu speichern. "Der Film vermag, was den Kombinationen von Buchstaben nie und nimmer gelingen kann: ein Ereignis dies- und jenseits der Kategorien Sinn und Bedeutung so wiederzugeben, wie es ist "(Hörisch 1998, 25) -- oder zumindest so, wie es von der Kamera aufgenommen wird.

Daneben unterstellt Hörisch Kracauers These aber auch eine "raffinierter Naivität. Denn sie bestreitet natürlich nicht, daß man auch im Rahmen der AV-Medien manipulieren (z.B. günstige oder ungünstige Perspektiven wählen, sinnentstellend kürzen oder falsche Töne unterlegen) kann." 'Lügen‘ war, ist und bleibt für Hörisch aber eine rein sprachliche Handlung. Seiner Auffassung nach lohnt es sich "im Zeitalter der Modedebatten über die Simulationstechnologien und virtual reality …, mit Kracauer an die tiefe Binsenweisheit zu erinnern, daß der Film und alle AV-Medien anders als das mit Übersetzung in Zeichensymbole arbeitende Medium Schrift/Buch das Reale (im Sinne von Schall- und Lichtwellen) registrieren kann" (a.a.O., 26).

Die Fernsicht auf die Wirklichkeit

Eine besondere Stellung innerhalb der Massenmedien nimmt das Fernsehen ein. Immer mehr Freizeit versammelt immer mehr Menschen vor dem Fernsehschirm im Wohnzimmer. Verbindet doch das mal kleine, mal große Empfangsgerät auf wundersame Weise innen und außen. Und um die bunten Bilderwelten aus ihrem Kasten zu befreien, bedarf es nur eines Drucks auf einen Knopf, ein Vorgang ohne Fremdheit, der schon von Kindesbeinen an eingeübt wird.

Dabei ist Fernsehen längst keine reine Freizeitbeschäftigung mehr. "Fernsehen wird zunehmend zum Ersatz für wirkliches Leben" (Der Spiegel Nr. 14/1994, 152), die Welt der Bildschirme prägt die Wirklichkeit der Zuschauer. Live und in Echtzeit verfolgen wir den Golfkrieg im Fernsehsessel, holen uns das "wahre Leben" in Form von Reality-TV ins Haus. Raum und Zeit verschwinden, wir sind gleichzeitig überall dabei, wo "was passiert". "Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf" (McLuhan).

Online-Banner für die deutsche Website der Kult-Soap "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" (GZSZ)


Der Grund für die Attraktivität des Mediums Fernsehen liegt in der Fabel von der authentischen Wirkung des Bildes. "Die besondere Wirkung des Fernsehens beruhte schon immer darauf, daß es den Eindruck der Authentizität, der Augenzeugenschaft -- synthetisch -- hervorrufen kann" (Schulz 1993, 21). Während sprachlich geführte Argumentation oft noch so viele Beweise erbringen kann, um dann doch nur als bloße Behauptung abgetan zu werden, reicht oft ein einziger Blick auf wenige Bilder, um Menschen zu überzeugen. Thomas Meyer spricht in diesem Zusammenhang von der "metaphysischen Gewißheit des Augenscheins" und dem "ontologischen Vorrang der Bilder" (Meyer 1992, 47f). Bilder können sich nämlich auf eine ältere Tradition bei der Vermittlung von Wirklichkeit berufen als die Sprache: In der Menschheitsgeschichte steht die Stufe der Anschauungen und des Imaginierens vor dem Niveau des Begreifens und Erzählens mit Hilfe von Texten (vgl. Flusser 1985, 10).

Das Paradox mit der Einprägsamkeit und Glaubwürdigkeit ist allerdings, dass gerade auch das Fernsehen (und die technischen Bildermedien überhaupt) ausreichend Raum zur Manipulation bieten: esunterliegt nicht nur den Kriterien der Medienökonomie und der Selektion wie alle anderen Massenmedien auch, sondern es bietet spezifische Möglichkeiten zur Interpretierung der Wirklichkeit. Zunächst kann man mit Hilfe von szenischen Mitteln, etwa einer besonders schmeichelnden Ausleuchtung oder einem besonders aparten Setting, der Realität ein bißchen auf die Sprünge helfen. Ein Ereignis kann sogar ganz oder teilweise inszeniert bzw. nachgestellt werden. Dabei kann tatsächliches, inszeniertes oder frei erfundenes Geschehen zu einer virtuellen Sicht auf die Wirklichkeit vermengt werden. Außerdem kann die post-production, der Schnit nach einer Aufnahme, viel bewegen. So ist es ohne weiteres möglich, Teile und Szenen aus verschiedenen, räumlich und zeitlich getrennten Ereignissen neu zusammenzusetzen.

Trotzdem ist das Fernsehen mit seiner visuellen Logik nach wie vor für viele das glaubwürdigste Medium und bestimmt die Wahrnehmung der Welt. "Die Art, wie das Fernsehen uns die Welt zeigt, wird zur Art, wie wir die Welt sehen ... Die Optik triumphiert" (Meyer 1992, 108/110).

Die Bilderkrise

Dass nach der Sprache auch die Bilder in die Krise geraten, wird paradoxerweise vor allem an ihrem Siegeszug deutlich. Denn wenn der Mensch von immer mehr Bilder(medien) umgeben ist und gerade die Werbung uns ständig mit neuen Bilderwelten umgibt, werden diese immer willkürlicher. Es wird deutlich, dass auch Bilder sehr unterschiedliche Realitäten abbilden und nicht den einen, wahren Weg zur Wirklichkeit weisen.

Daß eine 'Krise der Bilder' tatsächlich eingetreten ist, läßt sich an vielfältigen Symptomen ablesen und am augenfälligsten wohl daran, daß die Quantität der zirkulierenden Bilder über jedes vorstellbare Maß hinaus gewachsen ist. Obwohl die Theorie das Wachstum lange als ein Zeichen von Gesundheit angesehen hat, mehren sich inzwischen Stimmen, die von einer 'Wucherung' des Bilderuniversums sprechen; … insbesondere die Vervielfachung der Fernsehkanäle hülle die Rezipienten in einen wahren Bildernebel ein.

Hartmut Winkler 1997, 209f.

Wenn sich Bilder immer weiter überlagern, werden sie weitgehend belanglos. Bedeutung erhalten sie dann -- letztlich wieder genauso wie die Signifikate -- erst wieder durch einen Prozeß der Konventionalisierung, der geradezu willkürlichen Verankerung in der kommunikativen und sozialen Wirklichkeit. Es tritt also genau der Effekte ein, den die Bilder eigentlich vermeiden helfen sollten.

Spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre ist eine Debatte zu beobachten, die die Universalität der Bilder in Frage stellt und ihren Geltungsanspruch relativiert. In der zunehmenden Konventionalisierung des Bilderuniversums wird unabweisbar, daß es sich auch hier um ein symbolisches und das heißt arbiträres und partikulares System handelt und daß die Ikonizität allein den Bezug auf die Referenten nicht garantieren kann.

Hartmut Winkler 1997, 74

Dass die Bilder letztlich zu einer "Sprache" werden, zeigte Roland Barthes bereits 1964 mit seinem Essay über die "Rhetorik des Bildes" (>>> im Reader). Darin zeigt er -- bezeichnenderweise an einem Werbebild -- dass Bilder eine sprachliche Natur haben und neben mehrfache Botschaften (teilweise kodiert, teilweise nicht kodiert) enthalten (>>> Bilderwelten: Von der Rhetorik des Bildes).

Seitdem hat vor allem die interkulturelle Werbeforschung herausgearbeitet, dass selbst ikonographische (nicht-symbolische) Bilder in verschiedenen Ländern unterschiedliche empfunden und aufgenommen haben. Von einer universellen, von Konventionen befreite Bildsprache kann daher nicht die Rede sein (>>> Die Rhetorik des Bildes oder Kommunikation ohne Worte. Auf dem Weg zu einer weltweiten Bildsprache?).

Wie bei der Sprache wurde so auch bei den Bildern immer deutlicher, dass auch dieses symbolische System offensichtliche Grenzen hat. Nicht zu vergessen ist auch die Geschichte der so genannten "Bilderkriege" und "Bilderstürme", zu denen es in der Neuzeit immer wieder gekommen ist. Immer wieder wurde der Glauben an die Kraft der Bilder erschüttert, im religiösen Kontext genauso wie im medialen, etwa durch die Video-Bilder aus den Hightech-Bombern, die seit dem Golfkrieg fest zum militärischen Propaganda-Apparat gehören.


Neue Hoffnung: der Computer und der digitale Code

Nachdem auch die Bilder in eine Krise geraten sind, lag es am Computer, die Rolle des neuen "Universalmediums" zu übernehmen. Obwohl der Computer bereits während des Zweiten Weltkrieges in Grundzügen "fertig" war, dauerte es bis zu den frühen Neunziger Jahren, bis er tatsächlich auch als Medium (und nicht nur als Rechenknecht) entdeckt wurde. Wegweisend kann bis heute das von Bolz, Kittler und Tholen herausgegebene Buch "Computer als Medium" (1994) gelten. Vor allem Norbert Bolz feiert den Computer dabei als Krönung der bisherigen Medienentwicklung und als Kernelement eines neuen, digitalen "Medienverbunds".

Der Terminus Medienverbund meint ja, daß es keine Einzelmedien mehr gibt. Und da alle technischen Medien heute digitalisierbar sind, können alle Daten im selben Speicher abgelegt werden.

Norbert Bolz (1994): Computer als Medium -- Einleitung. In: ders./Friedrich Kittler/Georg Christoph Tholen (Hg.) (1994): Computer als Medium. München 1994 (Fink), 10

Seitdem gilt der Rechner zahlreichen Theoretikern als "das exemplarische Metamedium" (Gene Youngblood: Metadesign. Die neue Allianz und die Avantgarde. In: Rötzer, Florian (Hg.) (1991): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 305-322, hier: 309). Der Computer wird gepriesen als "universell einsetzbare Maschine", die alle "Medien in sich 'enthält‘ und mit ihnen identisch ist".

Kontrollraum des Großrechners Eniac (ca. 1960)

Zum "Universalgenie" wird der Computer vor allem durch seine Verwandlung der Welt in Einsen und Nullen, durch die Nutzung des digitalen Codes in Form eines binären, nur zwischen zwei Funktionen unterscheidenden Systems. Digitale Rechner zerpflücken alles in Bits und Bytes. Mit diesem elementaren Grundcode lässt sich die Welt zunächst in Kleinstteile (ähnlich den Atomen, aber immateriell) zerlegen und anschließend wieder in neuer Form zusammensetzen (synthetisieren). Dass eine Maschine, die mit einem binären System arbeitet und rein logische Befehle ausführt, Informationen verarbeiten kann, hat Clude Shannon bereits Ende der dreißiger Jahre gezeigt (vgl. Gates 1995, 45ff. -- dort auch eine ausführliche Erklärung der Arbeitsweise des digitalen binären Codes).

Bei den Bits handelt es sich um Elementar- und Universalzeichen, mit deren Hilfe beliebige andere Zeichen und Zeichensysteme abgebildet, übersetzt, kombiniert und ausgetauscht werden können: Töne, Bilder, Schrift, logische Operationen, Roboterbewegungen und -- Warenwerte. Ökonomisch gesprochen ist der Binärcode reines Zeichengeld. … Der Binärcode führt zur … Verschmelzung bisher getrennter Medien zu einem multifunktionalen Medienverbund. … Der Binärcode macht alle Zeichen und Bedeutungen austauschbar. Er ist ein Universalcode und fungiert als Umschlagplatz der Zeichen.

Bernhard Vief (1991): Digitales Geld. In: Rötzer, Florian (Hg.) (1991): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 117-146, hier 120f.

Apples Lisa: der erste Personal Computer

Vielfach wird der digitale Code daher als neues digitales Grundalphabet bezeichnet, dessen Zeichen nicht mehr zwischen Klang, Wort und Bild unterscheiden. Dahinter verbirgt sich wie so häufig in der Mediengeschichte ein großer Anspruch:

Die faszinierende Erfahrung, daß Computer Algorithmen in Töne umrechnen können, Töne in Bilder, Bilder in Bewegung und Bewegung wiederum in Algorithmen, muß den Rechner als ein Medium erscheinen lassen, das der Differenzierung selbst entgeht und eine synthetische Leistung im Feld der Medien vollbringt. Eine Synästhesie wird denkbar, die nicht mehr im Wahrnehmungssystem des Menschen ihren selbstverständlichen Ort hat … . Nun scheint es auf dem Terrain der Maschinen selbst möglich zu sein, die differenten Codes ineinander zu überführen und ihre bis dahin kaum zu schlichtenden Differenzen in einer Art Master-Code zur Ruhe zu bringen.

Winkler 1997, 59

In enger Verbindung mit dieser These steht der viel zitierte Begriff Multimedia (>>> Essay: Kultur, Wirtschaft und Multimedia von 1996) dessen Entstehung Negroponte folgendermaßen erklärt: "Wenn alle Medien digital sind … vermischen sich Bits problemlos miteinander. Sie geraten durcheinander und können -- einzeln oder getrennt -- immer wieder neu zusammengestellt werden. Diese Mischung von Audio, Video und Daten wird Multimedia genannt: Der Begriff klingt kompliziert, beschreibt aber im Grunde nichts anderes als gemischte Bits" (Negroponte 1995, 27).

Desktop von Apples Lisa

Multimedia definiert sich insbesondere durch die Verbindung von Text, Grafik, Ton, Bild, Animation als neuem Informationsangebot und durch die Dialogstruktur, die dem Benutzer die Interaktion erlaubt, die aktive Teilnahme.

Faulstich 2000, 40

Die prognostizierten Folgen des "digitalen Alphabets" sowie von Multimedia reichen -- wie bei allen Medien -- weit über den technischen Bereich hinaus ins Soziale hinein. Häufig spricht man von der nächsten "medialen Weltveränderung … auf globaler Ebene", durch die das bisherige Sender-Empfänger-Schema durch das Paradigma einer reziproken Kommunikationsbeziehung ersetzt werden soll (Faulstich 2000, 40).

Kritik am verabsolutierten Konzept der "Universalmaschine" Computer

Die Ansicht, wonach der Computer tatsächlich die universelle Maschine sei, geht auf die frühen Schriften Alan Turings zurück (z.B. Intelligence Service, in Deutsch erschienen 1978 beim Merve in Berlin). Doch während Turing die Behauptung der Universalität allein auf die Ebene der technischen Übersetzbarkeit eingeschränkt hatte und zudem diskrete Maschinen -- diskrete Maschinen arbeiten in Schritten mit genau beschriebenen, klar umrissenen Zuständen -- auf seiner universalen Maschine simulieren wollte, wurde die Vorstellung bald auf Maschinen und symbolische Systeme allgemein übertragen und damit ihrer ursprünglichen Limitierung und Legitimierung beraubt. Winkler sieht darin einen deutlichen "Aspekt von Aggression":

Den bestehenden, traditionellen Medien tritt das Datenuniversum mit einem entschiedenen Gestus der Ablösung gegenüber, und alles, was für einzelne Medien spezifisch wäre, scheint vor der vereinigenden Kraft des Digitalen sich zu erübrigen.

Winkler 1997, 60

Doch wie immer in der Mediengeschichte ist auch der Computer trotz all seiner nie gekannten Möglichkeiten ein begrenztes Medium. Das lässt sich zum einen an der Tatsache deutlich machen, dass der Rechner nicht alle anderen früheren Medien einfach in sich aufnehmen und ihre Funktionen Eins zu Eins übernehmen kann. Eine (digitale) CD etwa hat eine ganz andere Klangqualität als eine (analoge) Schallplatte. DJs etwa schwören allein auf Vinylscheiben, da die CD keine vergleichbaren Soundwellen auf ihrem Silberglanz speichern und von sich geben kann.

Wenn die Rechner in der Lage sind, Zahlen, Texte, Algorithmen, Bilder, Töne und was immer zu verarbeiten, so bedeutet dies keineswegs, daß dieses jeweils auf der gleichen Ebene geschieht und daß alle symbolischen Systeme gleichrangig dazu geeignet sind, den Weg durch die Bits und Bytes zu durchlaufen. Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob ein Rechner sprachlich verfaßte Texte speichern und versenden oder ob er sie nach Sinnkriterien durchsuchen soll. … Für die einzelnen symbolischen Systeme stehen sehr unterschiedlich leistungsfähige Algorithmen zur Verfügung; die wohl leistungsfähigsten im Bereich der Zahlen und der Mathematik, die als ein kohärentes System von Umformungsregeln eindrucksvolle Permutationen und vor allem Datenreduktion erlaubt; und deutlich weniger beeindruckende etwa im Bereich der natürlichen Sprache, wo Stichwortsuche und Wort-Häufigkeitsstatistiken noch immer den Stand der Technik markieren. (Haptische und olfaktorische 'Daten' scheinen der Datenform selbst sich zu widersetzen).

Winkler 1997, 219

Dazu kommen die vielen kleinen Imperfektionen, Systemabstürze und Kompatibilitätsprobleme, mit denen die Computer uns fast täglich nerven und ab und an an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Nicht gelöst ist zudem das Problem der dauerhaften Speicherung von Daten auf Computer-lesbaren Medien (schon heute findet sich kaum noch ein Laufwerk für "große" Disketten -- die Lesbarkeit von CD-Roms wird auf max. 30 Jahre geschätzt). All diese Imperfektionen können als Zeichen interpretiert werden, dass es mit der "Unfehlbarkeit" des Computers nicht besonders weit her ist.

Dazu kommt, dass die Digitalisierung keine reine Besonderheit des Computer ist. Erinnern wir uns an die Schrift zurück und die von ihr geleistete Unterteilung der Wirklichkeit in syntagmatische Ketten.

Es ist kein großer Schritt vom griechischen Alphabet bis zur 0/1-Kodierung des Computers. Lange vor der Erfindung des Computers hatte das griechische Alphabet die gesprochene Reihe bereits digitalisiert, statt sie durch analoge Verfahren zu repräsentieren, wie die Silbenschriften oder heutzutage das Tonband.

Kerckhove 1995, 41

Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick hat weiterhin herausgearbeitet, dass auch die Sprache schon als Form der digitalen Kommunikation aufgefasst werden kann (>>> Watzlawicks Unterscheidung zwischen digital und analog).

 
Links

Einhundert Jahre Kino

Heinz-Nixdorf-Computermuseum (Paderborn)

Orientierung durch Bilder und Symbole. Beitrag aus dem 3M-Magazin Milestone

Iconic Turn -- das neue Bild der Welt. Münchner Vorlesungsreihe im Sommersemester 2002 (im Netz archiviert)

Geert Lovink und Hartmut Winkler: Der Computer -- Medium oder Rechner? Ein Gespräch. Telepolis 15.06.1996

Hans-Arthur Marsiske: Multimedia gab es schon immer. Ein Gespräch mit Johannes Fried, Professor für mittelalterliche Geschichte. Telepolis 18.05.1999

Danny Schechter: Every Picture Tells A Story, Don't It. Bilder und Propaganda. Mediachannel.org February 3, 2000

Goedart Palm: Die Zukunft des Lesens. Während die Aliteralität steigt, neigen netzorientierte Leser zum schnellen Scannen der Texte. Telepolis 24.05.2001

Hans-Arthur Marsiske: Das Internet als kollektives Gedächtnis. Zeitmaschine I. Telepolis 29.05.2001

A genius and his machine. Rezension eines Buches über den Computer-Vordenker Charles Babbage. News.com 18.02.2002

Gerrit Gohlke: Schlimmer als ein Blitzschlag. Plädoyer für eine ironische Paranoia gegenüber den Bildern. Be Magazin des Künstlerhauses Bethanien (Berlin), 8/2002 (Februar)

Rolf Sachsse: Heimspiel für die Iconophilen. Rundumschlag über Bilderkriege und den Stellenwert von Bildern in der ZKM-Ausstellung 'Iconoclash'. Telepolis 03.05.2002

Thomas Assheuer: Im ersten Kreis der Hölle. Die Ausstellung "Iconoclash" will den Bilderkriegen Einhalt gebieten - und entfesselt selbst einen. Die Zeit 20/2002

Leslie Walker: A Visual Rather Than Verbal Future. Future Communication With Computers. Washington Post 09.05.2002

Michaela Simon: Worte in den Mund gelegt. Wissenschaftlern gelingt erstmals "videorealistische" Manipulation von Videomaterial. Telepolis 18.05.2002

Milliardster PC verkauft. Heise online 01.07.2002

Volker Boehme-Neßler: Multimedia statt Recht? Wie die elektronischen Medien das Recht verändern. Telepolis 10.12.2002

Kevin Kelly: God Is the Machine. In the Beginning there was 0. And then there was 1. A Mind-Bending Meditation on the Transcendent Power of Digital Computation. Wired 12/2002

Francis Hunger: Computer als Männermaschine (PDF-Download)

Die Intelligenz des Sehens. Interview mit dem Kunstkritiker Rudolf Arnheim

Benjamin Burkhardt: Auf der Suche nach einer neuen akademischen Disziplin. In Magdeburg wurde über die Notwendigkeit und Ausrichtung einer "Bildwissenschaft" verhandelt. Telepolis vom 06.10.2003

Benjamin Burkhardt: Der Streit um die Wissenschaft der Bilder. Die Schwierigkeiten bei der Etablierung der neuen Diszplin "Bildwissenschaft" entzweit die Vertreter der etablierten Kunstgeschichtle und Semiotik. Telepolis vom 18.02.2004

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