Umrisse einer Startup-Kultur in Deutschland (Von Stefan Krempl)

Um Umrisse einer Startup-Kultur festlegen zu können, sind zunächst allgemeine Begriffserklärungen nötig. Kultur ist ein häufig ge- bzw. auch missbrauchtes Wort, das verwendet wird, um die Spezifika der unterschiedlichsten Phänomene zu beschreiben. Denn stand der Begriff zunächst vor allem mit der "Hochkultur" in Verbindung, also vor allem mit den "schönen Künsten", so hat er in den letzten Jahrzehnten eine ungeheuerliche Ausdehnung erfahren: Heute ist von der Badezimmerkultur genauso die Rede wie von der Jugendkultur -- und seit gut einem Jahr auch in Deutschland eben von der Startup-Kultur.

Kulturen werden in diesem erweiterten Verständnis meist als "Lebensweise" oder Organisationsform aufgefasst, die eine bestimmte soziale Gruppe kennzeichnen, hinter der bestimmte Interessen und Aktivitäten stehen. Durch eine bestimmte Kultur unterscheidet sich eine solche "Szene" von Anderen.

Weitere Definitionen von Kultur sowie eine genauere Unterscheidung zwischen engem und erweiterten Kulturbegriff bietet eine Übersicht aus dem Sommersemester 2000 (Seminar: Interkulturelle Werbung).

Der Begriff "Startup" ist in jüngster Zeit auch in den verschiedensten Kontexten und mit unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht worden.

Unternehmensberater, Venture-Capital-Gesellschaften und Betriebswissenschaftler haben jeweils ihre eigenen Vorstellungen von dem entwickelt, was sie als Startup betrachten. Grundlegende Einigkeit besteht ... darin, dass es sich bei Startups um Technologieunternehmen handeln muss. ... Startup beschreibt eine bestimmte Kategorie technologieorientierter Unternehmen aus der IT-, Elektrotechnik, Bio- oder Kommunikationstechnologie.

Kristina Ruprecht: Rein pragmatisch. Was ist ein Startup? Net Investor 10/00, 36ff

Streng genommen bezeichnet Startup in der traditionellen BWL "nur den Zeitraum bis zur Aufnahme der Geschäftstätigkeit", definiert Heinz Klandt, Professor für allgemeine BWL an der European Business School in Oestrich-Winkel. (zitiert nach ebd.). Diese enge Fassung des Startup-Begriffs ist allerdings in der "New Economy" nicht mehr zu halten, in der oft selbst mehrere Jahre alte Unternehmen als Startups aufgefasst werden. Anschließen wollen wir uns daher den Ausschlusskriterien, die Klandt vorbringt: "Wenn ein Betrieb konsolidiert ist und dauerhaft schwarze Zahlen schreibt, dann ist es kein Startup mehr." Auch der Börsengang setzt dem Gründerlehrstuhlinhaber dem Startup-Status auf jeden Fall ein Ende.

Doch auch wenn ein Startup im eigentlichen Sinne aufhört, ein Startup zu sein, kann es in seiner Unternehmens- und Arbeitskultur durchaus Charakteristika aufweisen, die der "Startup-Szene" zuzurechnen sind. In der New Economy geriert sich so manches Unternehmen gerne als Startup, auch wenn es den Anfangsstatus längst überschritten hat. Ein Startup bezeichnet Harald Klees, Marketingleiter von IVC Venture Capital, daher pragmatisch als "ein Unternehmen, das noch von Aufbruchsdynamik geprägt ist, starken Teamgeist fordert, noch keine festen Strukturen etabliert hat und 16 Stunden Arbeit an sieben Tagen in der Woche verspricht" (zitiert nach ebd.).

Letztenendes werden so alle Unternehmen, die sich als Teil der New Economy sehen, zu Startups im weiteren Sinne. Der Begriff New Economy hat selbst eine ähnliche "Karriere" gemacht: War er anfangs eine Bezeichnung für eine von den Informationstechnologien angetriebene Wirtschaftsentwicklung, die keine "Downs", sondern nur nach "Ups" kennt ("Der lange Boom") und für ein Ende der alten Konjunkturzyklen von Auf- und Abschwung stehen sollte, so wird er heute häufig als die vom "Startup-Geist" angetriebene Wirtschaft verwendet.

New Economy lässt sich nicht auf Internet und Neuen Markt reduzieren, sondern bezeichnet vielmehr den Übergang von einer Wirtschaft, die sich bisher vor allem auf Kapital und Arbeitskraft gestützt hat, zu einer Wirtschaft, in der Wissen und Kreativität als wichtigste Produktivfaktoren gelten. Und das hat weit reichende Folgen, gerade weil Wissen so ein schnelle Gut ist. Man muss anders mit den Mitarbeitern umgehen, es verändern sich die Management-Methoden, es verändern sich die Beziehungen unter Unternehmen, kurz: Man kommt mit Konkurrenzmodellen nicht mehr weit, sondern muss auf Kooperationsmodelle umstellen ... In Zukunft wird es schlicht ökonomisch sein, pfleglich und fair mit seinen Mitarbeitern umzugehen.

Interview mit Gabriele Fischer (brand eins), Zitty 18/2000, 21f, hier: 21

Aus dem Zitat wird bereits ersichtlich, dass mit den Phänomenen "Startups" und "New Economy" auch bestimmte kulturelle Entwicklungen gemeint sind, die wir im weiteren zu Bausteinen einer Startup-Kultur ausbauen wollen. Die neuen Charakteristika, die immer wieder im Zusammenhang mit Startups genannt werden, lassen sich vor allem in den Bereich der Arbeits- oder Unternehmenskultur ("Corporate Culture") einordnen. Zu diesem Forschungsgebiet gibt es für die "Old Economy" bereits reiche Literatur (vgl. z.B. Birkigt, K./Stadler, M. M. (1980): Corporate Identity, München). Auch über "virtuelle Unternehmen" oder die Auflösung von Hierarchien in Konzernen wurde schon einiges geschrieben. Eine genauere Analyse der Arbeits- und Unternehmenskultur von Startups steht aber noch aus. Im weiteren möchte ich hier erste Umrisse einer solchen "Startup-Kultur" vorstellen, die sich auf Berichte über Unternehmensgründungen aus der einschlägigen deutschen Presse bezieht.

Eingeschränkt wird die Untersuchung dabei weitgehend auf "Internet-Startups", die auch unter der Bezeichnung "Dotcom" (der Name stammt von der Domainendung für den kommerziellen Internetbereich im nicht ländergebundenen Domain-Namens-Raum) bekannt sind, sowie Multimedia-Agenturen, die vor allem in Deutschland lange als "Speerspitze" einer neuen Wirtschaft von den Medien begrüßt und gehandelt wurden bzw. werden.

"Startup-Kultur" kann man demnach als eine Mischung aus Chaos, dem Abbau von Hierarchien, einer selbst gestalteten und ihm besten Fall selbst motivierenden Aufgabe, Aktienoptionen (als zusätzlicher Anreiz), großen Freiheiten bei gleichzeitig vom möglichst schnell zu erreichenden Unternehmensziel vorgegebenen Zwängen beschreiben. Allgemein überlagert dabei das Arbeitsleben immer weiter die Privatsphäre, das Startup wird häufig zur WG und zum Familien- und Freundesersatz in einem. Die Arbeit im Startup bzw. in der "Zukunftsbranche" der New Economy kann damit leicht zur Droge werden, und Mittel gegen den Burnout sind gefragt.

Spannung, Chaos, die Droge Startup

Es ist einfach die spannendste Sache der Welt, im Moment in Deutschland bei einem Internet-Startup mitzumachen ... Durch das Internet herrscht Chaos. Große, etablierte Unternehmen fragen sich, welche Rolle sie in zehn Jahren spielen werden. Chaos ist die Blütezeit für Gründer.

Niko Waesche, VC bei Global Retail Partners, SZ Magazin 2.6.2000

Junge Unternehmen werben ... mit unkompliziertem Umgang, Teamgeist und Freiheit bei der Arbeitsgestaltung ... Tatsächlich gehört ein Schuss Chaos zur Tagesordnung. Es gibt kaum vorgegebene Arbeitsprozesse. Und wenn es sie gibt, werden sie wegen der rasanten Expansion ständig überholt. Zudem fehlen technische und personelle Ressourcen, um den Arbeitsalltag zu erleichtern.

Wirtschaftswoche 39/2000, 234-241

 

Flache Hierarchien, jeder Mitarbeiter wird zum Unternehmer durch Aktienanteile

Ich glaube, man kann künftig keine streng hierarchischen Unternehmen mehr führen, bei dem von oben nach unten die Kommandos verteilt werden. In einer flexibilisierten Wirtschaft sind solche Systeme viel zu träge, um ausreichend schnell auf Marktänderungen reagieren zu können. Dass Intershop so schnell wächst. ... liegt auch an den flachen Hierarchien: Wir geben den Mitarbeitern Verantwortung. Wir geben ihnen Ziele vor und lassen ihnen die Freiheit, selber über die Lösungswege zu entscheiden. … In der New Economy sind die meisten Jobs selbstmotivierend: Die Arbeit macht den Leuten Spaß, und um die Ausgestaltung ihrer Arbeitsverträge kümmern sie sich lieber selber ... Die IT-Branche braucht weder Gewerkschaften noch Flächentarifverträge. Eine wie auch immer geartete Regulierung der Arbeitszeit wäre zum Beispiel tödlich für die Internetfirmen. Bei Intershop dürfen die Mitarbeiter so viel arbeiten wie sie wollen, wir setzen da weder Ober- noch Untergrenzen. ... Bei Intershop sind alle Mitarbeiter direkt am Unternehmen beteiligt -- da ist im Grunde jeder sein eigener Unternehmer. In vielen anderen Firmen der New Economy ist es ähnlich: Hier wird keiner ausgebeutet, sondern wir reißen uns vielmehr als Arbeitgeber um jeden einzelnen Mitarbeiter. Angesichts des Wettbewerbs um Fachkräfte haben wir ein Eigeninteresse daran, dass sich die Leute bei uns wohlfühlen.

Interview mit Intershop-Chef Stephan Schambach, Wirtschaftswoche 25/2000, 41ff

In einer Branche, in der wegen des Mangels an Fachkräften die Rollen beim Vorstellungsgespräch praktisch vertauscht sind, reicht gute Bezahlung nicht, um Leute zu halten. … Mitarbeiter werden in der IT-Branche nicht als Kosten-, sondern vielmehr als Wertschöpfungsfaktor verstanden.

FTD 23.5.2000

Freiräume bei der Arbeit sind den Beschäftigten der New Economy wichtiger als das Gehalt. Das ergab eine Untersuchung des e-Commerce-Dienstleisters Integra. Fazit: Für drei Viertel der Angestellten sind die wichtigsten Motivationsfaktoren die freie Wahl der Arbeitszeit, zwanglose Kleiderordnung, ein gutes Betriebsklima und Freiraum für eigene Entscheidungen. Gut die Hälfte möchte darüber hinaus ein gutes Gehalt. Die Arbeitnehmer der New Economy legen Wert auf eine Erfolgsbeteiligung und Weiterbildungsangebote.

Net-Business 26.6.2000

Am Neuen Markt sind Stock-Options-Programme für Neueinsteiger ein "Muss". … Stock-Options haben für die Mitarbeiter wie auch das Unternehmen Vorteile. Das Unternehmen bekommt von den Mitarbeitern Kapital zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig werden die Mitarbeiter an das Unternehmen gebunden. Junge, meist finanzschwache Firmen gleichen mit Aktien-Optionsplänen in der Startup-Phase die Differenz zu den marktüblichen Gehältern ihrer Mitarbeitern aus.

Net Investor 9/00, 106

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt:

Gerade junge Unternehmen, die außer Visionen und der Aussicht auf einen Börsengang häufig nicht viel zu bieten haben, locken neben Führungskräften zunehmend auch andere Mitarbeiter mit Aktienoptionen als Ersatz für hohe Festgehälter ... Doch die Vision vom Aktienmillionär wird für viele schon jetzt zum Albtraum. Der weltweite Einbruch der Kurse ließ viele Aktionäre aus dem Börsenhimmel zurück auf den Boden der Tatsachen fallen.

Net-Business 10.6.2000, 57

 

"Kein Dresscode" ist auch ein Code

Vielleicht lässt sich an der veränderten Kleiderordnung am besten darstellen, was wirklich neu ist an der Neuen Wirtschaft. In jungen Startup-Unternehmen ist bekanntlich der Chef kaum noch zu erkennen, zumindest nicht an seinem Anzug. Statt Schlips und Kragen herrschen Jeans und Piercings vor in den schick umgerüsteten Fabriketagen oder Lagerhäusern zwischen Berlin-Mitte und dem Hamburger Hafen. … Für die meisten Mitarbeiter ist es schon ein großer Schritt zur perfekten Welt, wenn sie sich fürs Büro, das auch keines mehr ist, nicht mehr verkleiden müssen. …. Letztendlich wird dann die Firma zum Laufsteg.

SZ 19.4.2000

"Auf die Wirtschaft wirkt die neue Lässigkeit wie ein Konjunkturprogramm", will Focus-Money (37/2000, 136. Hervorhebung SK) sogar herausgefunden haben. Als Beleg für diese These zitiert das Magazin eine Studie der "New Yorker Society for Human Resourcemanagement", derzufolge es wirtschaftlich bergauf gehe, wenn der Absatz formeller Kleidung sinkt. Um die Behauptung weiter zu erhärten, führen die Münchner die Stimme des Chefredakteurs des Börsenbriefs "Maininvestor", Axel Mühlhaus, ins Feld. Der meint: "Je weniger vor dem Bauch baumelt, desto mehr steht auf dem Kurszettel" (ebd., 137).

Als buntes Praxisbeispiel muss -- wie so oft -- die Hamburger Multimedia-Agentur Razorfish herhalten, deren Pressesprecherin Jessica Nitschke die "modischen Gepflogenheiten ihrer Kollegen" wie folgt umschreibt: "Wir tragen Jeans, Anzug, Sackhose, engen, kniekurzen Rock, paramilitärische Urban-Guerilla-Wear, Blümchenkleid oder Lederhose" (ebd.).

Legendär sind zudem die "Corporate-T-Shirts" mit den wunderschönen Firmen-Logos, die sich Gründer und Gesellen gerade in den Anfangszeiten des Startup-Booms in Deutschland nur allzu gerne überzogen. Demonstriert werden sollte nicht nur die Abneigung gegenüber den Kleidungsvorschriften der Old Economy, sondern zugleich auch das firmeninterne Zusammengehörigkeitsgefühl nach außen getragen werden. Inzwischen sind die Schriftzüge bei den meisten Startups auf die Größe eines Lacoste-Krokodils geschrumpft bzw. die T-Shirts mussten ganz normalen Business-Hemden Platz machen. Dass so manches "Startup" in die Jahre kommt und die Unterscheidung zwischen New und Old Economy am Kleidungsstil schon wieder ins Wanken gerät, beweist just eBay Deutschland, mit dem unter dem Namen Alando der ganze Hype im Frühling 1999 ja hierzulande erst richtig los ging. Der Chef der Plattform, Jörg Rheinboldt, hat den Freitag, der bei vielen Konzernen als "Casual Friday" ohne Krawattenzwang gilt, geradewegs zum "Tie-Day" (Krawattentag) ernannt, damit "auch Anhäger konservativer Kleidung mal auf ihre Kosten" kommen (zitiert nach ebd.).

 

Hippe Arbeitsräume -- für Netzsklaven?

Bei Pixelpark haben die Konferenztische die Form von Surfbrettern, und manche Räume sehen aus wie Riesen-Aquarien. Die Firma als großer Pixelpark -- diese Idee will Gründer Paulus Neef trotz zunehmender Größe weiterhin verfolgen. Der Firmenname ist Programm: "Pixel steht für Produktion, Park für Menschen und Kommunikation."

Tomorrow 1/00, 188

"Wer unsere Räume betritt, soll spüren, dass er in eine andere Welt kommt, dass er es mit einem neuen Medium zu tun hat", sagt Martin Hasse, Art Director bei der New-Media-Agentur Razorfish. Um das zu erreichen, musste ein altes Hamburger Kontorhaus mit seinen 30 bis 40 Räumen komplett entkernt werden. Für Präsentationen führen die Macher von Razorfish ihre Kunden in einen Raum, der an ein Ufo erinnert - eine Kapsel mit modernster Technik.

FTD 24.5.2000

Mit der gleichen Schonungslosigkeit, mit der die "Dot-coms" weltweit gezeigt haben, wie man aus dem Untergrund und noch dazu virtuell neue Wertschöpfungsketten entstehen lassen kann, hat eine Kultur in die Büros Einzug gehalten, die bis dato nur auf den heimischen Sofas und in der Szene stattgefunden hat.

Thomas Bried: Alles eine Frage der Kultur? FAZ-Beilage Modernes Büro, 16.10.2000

Young Professionals (3/2000, 10) über das "hippe" Razorfish-Büro: "Die Wände sind unverputzt, an der Decke schlängeln sich die in Alu verpackten Rohrleitungen entlang, die Mountainbikes lehnen neben den Besprechungsstühlen, die Tischtennisplatte steht vor den Schreibtischen des Chefs, und an der ausladenden Theke trifft man sich zwischendurch auf einen Espresso.

Die Arbeitsatmosphäre wird abgerundet durch Partys und zahlreiche "Spielereien", um die Mitarbeiter möglichst bis in die Nacht hinein bei Laune zu halten: Kickertische erobern die Startup-Büros, es gibt kostenlose Fußmassagen und erwischt der "Chef" einen Mitarbeiter beim Moorhuhn-Schießen oder bei einer Runde Half-Life, sollte er ihm ein paar gute Tipps für die nächste Runde geben können. Die Arbeit soll schließlich Spaß machen -- Hauptsache, Projekte werden schnellstmöglich vorangetrieben. Die Motivation dazu soll "von innen" kommen (intrinsische Motivation, wie die Psychologen sagen), nicht durch (offenen) Zwang von außen gesteuert werden.

Die Voraussetzungen dafür scheinen die "Ich-AGs", als die sich mit Matthias Horx die Möglichkeiten zur kreativen Selbstentfaltung bietenden Startups bezeichnen lassen, zumindest theoretisch bieten zu können.

Im Gegensatz zur Generation X praktiziert die Generation @ ihre Selbstverwirklichung tatsächlich. Sie lehnt das bestehende Wertesystem nicht ab, sie kreiert ein neues. Gerade weil die New Economy Dienstleistungen und Produkte für die Individualgesellschaft kreiert, setzt sie sich aus Protagonisten zusammen, die sich für einzigartig halten und genauso behandelt werden wollen. Jeder bringt seine individuellen Stärken ein und betrachtet das Gedeihen eines neuen Softwarproduktes oder einer Website als "eigenes Baby" -- man beachte bei dieser gebräuchlichen Formulierung den Hinweis auf das Unternehmen als Familienersatz.

High Potential: Macht Arbeit endlich glücklich? 2/00, 28-32, hier: 32

Einen guten Einblick in die locker-lässig-schrankenlose, Chaos-getriebene Startup-Kultur, in der die Frage der Arbeitsmotivation einen Schwerpunkt darstellt, bietet folgender Auszug aus einem Porträt der Verbraucher-Community dooyoo in der Zeit (29/2000):

Regeln sind spießig - das Arbeitszeitgesetz zum Beispiel oder die europäische Bildschirmrichtlinie. Kernarbeitszeit ist bei DooYoo von 9.30 bis 20.30 Uhr, dann muss jeder da sein. Manche kommen früher, viele bleiben länger, am Wochenende machen sie nach Bedarf einen oder eineinhalb Tage frei.

Nicht spießig ist die Arbeitsumgebung. Die zwei Fabriketagen in dem restaurierten Gründerzeit-Hinterhof ähneln einem Großraumbüro, aber es fehlt der Komfort, auch das Minimum an Privatheit, das ein halbhoher Paravent oder ein quer gestelltes Regal gewähren. Die sechs Gründer/Vorstandsmitglieder sitzen zwischen allen anderen. Die optische Umsetzung eines Managementkonzepts: flache Hierarchien.

DooYoo versteht sich nicht als Betrieb, DooYoo ist eine Community, hier arbeiten Freundinnen und Freunde, nicht etwa Kolleginnen und Kollegen, die gehören in die Welt der Old Economy. Unter Freunden bleiben Gewerkschaften oder Betriebsräte Fremdkörper. Freunde brauchen keine Vertreter, sie reden direkt miteinander. Was alle angeht, wird auf den wöchentlichen All-Hands-Meetings besprochen. Das funktioniert bislang, keiner kann sich an ernsthafte Probleme erinnern. Schon das Wort "Probleme" stört den Personalchef: "Ich würde von Chancen sprechen."

Spießig darf hier höchstens die Sitzgarnitur im "Sozialraum" sein: Gelsenkirchener Barock in beigefarbenen Blumen auf sandfarbenem Grund. Daneben steht ein Tischfußballspiel, das den Esstisch ersetzt. Der Kicker wird genutzt, die Polster nicht. Im Kühlschrank in der Küchenzeile liegen Melonen, Gurken, Tomaten, 5-Minuten-Terrine, Aufschnitt, Brot. Ein ständiges Geschenk der Firma. "Das Wichtigste in einem Start-up ist die Kultur", sagt Gründer Marcus Rudert, 30 Jahre alt und CETO, Chief Technology Officer. Früher sagte man dazu technischer Direktor. Heute sagt Rudert: "Wir wollen, dass sich die Mitarbeiter, die ja Übercommitment zeigen, wohl fühlen."

Engel Christiane Reymann: Superglückliche Malocher. Die Zeit 29/2000

Wenn der Betrieb zur Wohngemeinschaft wird, ist die Frage nur, wie Arbeit, Leben, Wohnen und Freizeit überhaupt noch auseinanderzuhalten sind. Bezeichnenderweise lautet der Slogan der "IT-Factory" Backfabrik.de, einem Bürokomplex für Startup-Unternehmen in Berlin, "Come home to work." Sich bei der Arbeit zu Hause fühlen bzw. das Zuhause für immer vergessen -- das ist der Anspruch der Unternehmenskultur der New Economy.

Startups sind ... verschworene Gemeinschaften. Das Unternehmen ist für diese Teams ihr kompletter Lebensinhalt. Es gibt nichts drum herum. Für die ist es ganz normal, jede Nacht bis um eins zu arbeiten. Gewerkschaften spielen keine Rolle. Wie in der Frühzeit der industriellen Revolution.

Niko Waesche, VC bei Global Retail Partners, SZ Magazin 2.6.2000

Wenn es dann in der Firma irgendwann so nett ist wie zu Hause, braucht man vielleicht auch gar keine Freizeit mehr.

SZ 19.4.2000

Für Detlev Liepmann, Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der FU Berlin, herrscht in den Startup-Unternehmen der Neuen damit "unter Gesichtspunkten der Arbeitszeitregelung etwas zugespitzt eine neue Mischung zwischen Autonomie und Ausbeutung". Es bestehe also auf der einen Seite die neue Freiheit, sich seine Arbeit selbst einzuteilen. Das führe aber auch dazu, dass über "tarifliche" Arbeitszeitregelungen sehr intensiv weitergeschuftet werde. Burnout ist bei den "Netzsklaven", wie die "Startup-Aussteiger" Steve Baldwin und Bill Lessard die neue Generation der Dotcom-Malocher bezeichnen, die meist unvermeidliche Folge.

Die große Autonomie mobilisiert auch die letzten Ressourcen der DooYoo-Mitarbeiter. Freiwillig geben sie ihre Kreativität, ihre Ideen, ihre emotionale Intelligenz und immer wieder ihre Zeit der Firma. All das haben sie ihren früheren Arbeitgebern vorenthalten, obwohl die höhere Gehälter zahlen. Ingo Bertzen macht darauf aufmerksam, dass bei DooYoo alle Leute mit leuchtenden Augen herumlaufen. Selbst die Ringe darunter können den Glanz nicht verdunkeln. … Die jungen unternehmerischen Menschen hingegen erlauben DooYoo, 100 Prozent zu fordern. Die sechs Gründer hatten diese Marke vorgegeben, als sie ihre gut bezahlten Jobs aufgaben, ihre vertraute soziale Umgebung. Als drag-factor bezeichnet das Marcus Rudert: "Keine Freunde, keinen Sportverein, keine Freundin, um den Fokus voll auf DooYoo richten zu können."

Engel Christiane Reymann: Superglückliche Malocher. Die Zeit 29/2000

Weitere Einsichten in die Startup-Kultur gibt die Übersicht zu: Wer gründet was mit wieviel Kohle?

 
Links

Stefan Krempl: "Neue Mischung zwischen Autonomie und Ausbeutung". Interview mit Detlev Liepmann, Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der FU Berlin

Scott Kucirek: A Company Is Its Culture. How we cultivate a climate of serious fun. Business Week Online 19.11.1999

Art Kleiner: Corporate Culture in Internet Time. Strategy Business 1/2000

Stefan Krempl: Neue Medien - neue Werte? Telepolis 5.5.2000

Peter J. Hartman: Start me up. The Keys to Working at a Startup. 16.6.2000

Rekha Balu: Does Your Startup Measure Up? Fast Company 7/2000

Holger in’t Veld: Schein und Sein in der New Economy. Net-Business 39/2000

Rainer Kreuzer: Lernen von den Latzhosen. Die neue Wirtschaft ist von der Alternativbewegung der Siebziger geprägt. Brand eins Nov/Dez. 2000

Internet startup culture - the UK versus America. Aus ZDNet's Startup Bible

Computer Culture Books. A list of books that students of Computer Science, as well as pure hobby-hackers, might enjoy reading

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